Gedenkjahr: Kirchen sollen Vergangenheit selbstkritisch aufarbeiten  

erstellt am
29. 04. 05

Weihbischof Krätzl bei "Stunde des Gedenkens" in der Wiener Reformierten Stadtkirche - BP Fischer nahm teil - Evangelische Kirchen veröffentlichten gemeinsame Erklärung
Wien (stephanscom.at) - "Fehlhaltungen von Christen" auf dem unheilvollen Weg zum "Anschluss" Österreichs an Hitler-Deutschland hat der Wiener Weihbischof Helmut Krätzl in Erinnerung gerufen. Bei einer "Stunde des Gedenkens" in der Reformierten Stadtkirche in Wien sagte der Wiener Weihbischof wörtlich: "Wir erinnern uns, dass Christen in beiden Kirchen, katholisch wie evangelisch, unterschiedlich zum Anschluss gestanden sind, diesen zum Teil sogar begrüßten und förderten. Jede Kirche soll in diesem Gedenkjahr ihre Vergangenheit selbstkritisch aufarbeiten". Auf der einen Seite sei ein "politischer Katholizismus" gestanden, auf der anderen eine "Los-von-Rom-Bewegung". Ökumene - "damals ohnehin noch kaum offiziell gewollt" - sei dergestalt fast unmöglich gewesen.

Trotz ihrer Spaltung seien sich die Christen von damals in einem Punkt "fast beschämend einig" gewesen, erinnerte Krätzl: Sie hätten zu wenig gegen den wachsenden Antijudaismus getan, der dann "im Holocaust seinen fürchterlichen Höhepunkt erreicht hat". Freilich seien die Wurzeln für Judenhass vielfältig und reichten schon in die vorchristliche Zeit zurück. "Aber wir Christen haben für die wachsende Judenfeindlichkeit noch religiöse Motive beigesteuert, was viele in die Irre geleitet hat", sagte Bischof Krätzl.

Der Wiener Weihbischof dankte aber auch den Frauen und Männern, die noch vor dem offiziellen Kriegsende begonnen hätten, Österreich in der Zweiten Republik wieder erstehen zu lassen. Man gedenke besonders jener, die diesen Aufbau durch ihren Widerstand vorbereiteten, und dies "oft sogar mit ihrem Blut erkauften". Krätzl: "Beide Kirchen dürfen stolz sein, dass darunter viele Christen waren, die solches aus dem Glauben und aus christlicher Verantwortung geleistet haben".

Fischer: Es geht um die Zukunft
"Wir sind in der Lage und guten Willens, mit unserer Geschichte vernünftig und verantwortungsvoll umzugehen", sagte Bundespräsident. Heinz Fischer bei dem Gedenkakt. Es gehe an diesem Tag nicht nur um den Rückblick, sondern um das, was für die Gegenwart und Zukunft des Landes bleibt. Im Jahr 1945 habe man aus der Geschichte gelernt, den Geist der Zusammenarbeit und Versöhnung beschworen, trotz des katastrophalen Zustandes hätten Optimismus und Zuversicht geherrscht, unterstrich Fischer.

Es erfülle ihn mit "Freude, Dank und Verwunderung, mit welchem Eifer und welcher Vision die Menschen 1945 die Zweite Republik aus den Trümmern gehoben haben", sagte der evangelisch-lutherische Bischof Herwig Sturm. Aus Österreich sei ein "begeistert demokratisches Land" geworden, konstatierte der reformierte Landessuperintendent Wolfram Neumann. Gedenken bedeute, "sich zu erinnern, sich zu freuen und zu beten", dass Österreich aus Asche und Ruinen auferstanden sei, so der armenisch-apostolische Erzbischof Mesrob Krikorian in seinem Grußwort.

Die jüdische und christliche Tradition lehre das Gedächtnis und die Erinnerung. Ohne Gedenken gebe es kein Leben in Zukunft, erklärte Oberkirchenrat Michael Bünker. Das "Versagen der evangelischen Kirche, der protestantischen Theologie, der einzelnen Christinnen und Christen, der Pfarrer und Lehrenden" sprach Oberkirchenrätin Hannelore Reiner an. "Wir brauchen das Erinnern für unseren Glauben, dass wir für eine Zukunft eintreten, in der dem Geist von Gewalt und Vergeltung widerstanden wird und der Geist von Gerechtigkeit und Frieden sich durchsetzt", so die Oberkirchenrätin.

Erinnerung an Versagen nicht verdrängen
"Es belasten uns die schmerzlichen Erfahrungen von Schuld und Scheitern unserer Kirchen und einer großen Zahl ihrer Mitglieder in der Zeit des Nationalsozialismus, insbesondere in Bezug auf jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger, Sinti und Roma und andere verfolgte Gruppen, wo mutiger bekannt, treuer gebetet, fröhlicher geglaubt, brennender geliebt und entschiedener widerstanden hätte werden müssen", heißt es in einer Erklärung der Evangelischen Kirche A.B. und H.B. in Österreich, die bei der Gedenkstunde offiziell vorgestellt und Bundespräsident Heinz Fischer überreicht wurde.

In der Erklärung spricht die evangelische Kirche davon, dass die Erinnerung an dieses Versagen nicht verdrängt werden dürfe und die Kirchen weiterhin zu ständiger Selbstprüfung aufrufe. In Bezug auf die eigene Geschichte wird betont, dass die evangelischen Gemeinden bis ins 20. Jahrhundert hinein "leidvoll erfahren" hätten, welche Folgen Intoleranz und Beschränkungen der politischen und konfessionellen Freiheit haben. "Diese Schatten der Vergangenheit" seien heute überwunden. Daher sei es möglich geworden, dass die christlichen Kirchen aus einem "neu geschenkten ökumenischen Bewusstsein gemeinsam das Ökumenische Sozialwort und Beiträge zur neuen österreichischen Bundesverfassung erarbeitet haben".

Die evangelische Kirche nutze den Anlass des Gedenkens an die Proklamierung der Zweiten Republik, um alle Bürgerinnen und Bürger und vor allem die Christinnen und Christen aufzufordern, ihre politische Verantwortung aktiv wahrzunehmen. Demokratie müsse immer wieder mit Leben erfüllt werden: "An ihrer Gestaltung Anteil zu nehmen, verlangt unser christlicher Glaube. Im Gewissen vor Gott gebunden, ist jedem Einzelnen die Verantwortung für das politische und gesellschaftliche Geschehen aufgetragen". Dies könne nach evangelischer Überzeugung bis hin zum Widerstand gegen die Staatsgewalt reichen.

Kirche könne und dürfe nicht an die Stelle des Staates treten: "Dort aber, wo in wichtigen Fragen Orientierung an ethischen Grundwerten erforderlich ist, haben die Kirchen das Recht und die Pflicht, Stellung zu nehmen". So sehe die evangelische Kirche es heute als ihre Verpflichtung, für die Rechte derer einzutreten, die verfolgt werden. Wörtlich heißt es: "Denen, die aus Sehnsucht nach einem besseren Leben an unsere Türen klopfen, sind wir Achtung und Respekt vor der unverlierbaren Menschenwürde schuldig. Ihnen allen müssen faire Gelegenheiten gegeben werden, ihre Anliegen vorzubringen und für ihren Lebensunterhalt zu sorgen".

Der Sozialstaat als "eine der tragenden Säulen der Zweiten Republik" erfordere heute Reformen: "Wir warnen dabei vor Ausgrenzung und fordern, jenen gerecht zu werden, die am Rande der Gesellschaft stehen". "Bestürzt" äußerte sich die evangelische Kirche darüber, dass in politischen Auseinandersetzungen die Achtung vor Andersdenkenden gering geschätzt und deren Würde verletzt wird. Auch erfülle es die evangelische Kirche mit Sorge, "dass die Chance einer neuen Verfassung für unser Land zu scheitern droht".

Zehn Jahre nach dem EU-Beitritt Österreichs sei das wachsende Haus Europa eine zentrale Herausforderung: "Das setzt die Bereitschaft zum Dialog und zur Begegnung mit Menschen anderer Sprachen, Kulturen und Religionen, auch innerhalb der eigenen Grenzen, voraus". Die evangelischen Kirchen hätten sich verpflichtet, deutlich für Demokratie und Menschenrechte auf österreichischer, europäischer und globaler Ebene einzutreten, "in dankbarer Gemeinschaft mit anderen Kirchen und Religionen sowie allen Menschen guten Willens".
     
zurück