Sondersitzung des Ministerrates zum Nationalfeiertag  

erstellt am
27. 10. 05

Erklärung des Bundeskanzlers

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Schülerinnen und Schüler aus Grieskirchen!

Wie jedes Jahr am Nationalfeiertag versammeln wir uns zu einer Sitzung des Ministerrates vor dem Bildnis des jungen Kaiser Franz Joseph aus dem Jahre 1848 und wir wollen bewusst als Antithese dazu der Errichtung der demokratischen Institutionen und des demokratischen Grundkonsens, der uns weit über die Parteigrenzen verbindet, gedenken.

"Verstehen kann man das Leben nur rückwärts. Leben muss man es vorwärts", schrieb der dänische Philosoph Sören Kierkegaard vor 200 Jahren.

Wer seine Geschichte aber nicht kennt, der tut sich schwer mit der Gegenwart und mit der Zukunft. Wenn wir uns erinnern im Gedankenjahr 2005, dann tun wir das im Namen der Zukunft. Diese Erkenntnis hat dieses Gedankenjahr geprägt, das frei war von Weihrauchschwaden und Beweihräucherung. Und sie ist und bleibt aktuell.

Zurückblicken ist ja nicht immer nur angenehm. Man erinnert man sich lieber an schöne Dinge in der Vergangenheit, das Schöne bleibt auch besser im Gedächtnis haften. Die Vergangenheit ist voll von bitteren Ereignissen voller Dramen, Schicksalsschläge und Fehler, aber auch schöner Erinnerungen.

Ziel des - langsam zu Ende gehenden - "Gedankenjahres 2005" ist es, alles zu zeigen: das Wunderbare genauso, wie die Irrtümer und die Wunden.

Heuer wurden zirka 230 Jubiläumsveranstaltungen, Feste, Symposien, Vorträge und Kongresse, abgehalten, an denen sich schon bisher etwa 500.000 Menschen beteiligt haben. Einige Gedankensplitter waren erstmalig, waren eine Premiere. Wir haben im Nationalrat in einer Enquete des österreichischen Widerstandes in den politischen Lagern, der Kirchen und der Bürgergesellschaft gedacht. Wir haben zum ersten Mal an die Länderkonferenz, die die eigentliche Gründung des vereinigten Österreich bildete, in einem Staatsakt erinnert. Wir haben viele Ausstellungen gehabt. Besonders möchte ich an die Ausstellungen im Belvedere und in der Schallerburg erinnern.

Die rund 70 Ausstellungen im ganzen Land wurden bis jetzt von über 1,1 Millionen Menschen besucht. Das ist wohl das größte Erwachsenbildungsprogramm, das es bislang in Österreich gegeben hat

Die beiden ORF-Sendereihen zur Zweiten Republik und zur Besatzung Österreichs werden am Ende insgesamt über 9 Millionen Zuseherinnen und Zuseher erreicht haben.

Es waren Beiträge des Bundes, der Länder, der Städte und Gemeinden. Die Sozialpartner haben sich ebenso eingebracht, wie Vereine, private Initiativen, Unternehmen und Sponsoren, denen ich danken will. Der ORF und die Zeitungen und Journalisten haben besondere Beiträge geleistet.

Von einer guten Zukunft in Frieden, Sicherheit und Wohlstand, davon träumen alle. Vor sechzig Jahren hat man besonders nach der Not des 2. Weltkriegs davon geträumt: von einer guten Zukunft für sich selbst, für die Familie, aber auch von einer guten Zukunft für unser Österreich.

Und damals im wiedererrichteten Österreich hat man noch nicht gewusst, wie es sein wird, aber man gehofft und man hat daran geglaubt.

Und daher ist diese österreichische Erfolgsgeschichte von sechzig Jahren nicht nur diesem Glauben und dem Fleiß unserer Menschen, sondern auch der Solidarität von außen zu verdanken: Die freie Welt ist uns damals massiv zur Seite gestanden, Österreich hat durch den Marshall-Plan Hilfeleistungen im Ausmaß von 1,6 Milliarden US-Dollar erhalten - das war nicht nur eine enorme Summe Geldes auch nach heutigen Maßstäben, das war auch ein Beweis des Vertrauens in uns, in das Vertrauen der Lebensfähigkeit, der Stärke dieses Staates .

Mit dem Staatsvertrag vor 50 Jahren ist die österreichische Zukunft schon viel klarer geworden. Er war nach langen Wirren und Unsicherheiten der offizielle Startschuss für die Erfolgsgeschichte des freien Österreich mitten in Europa.

Wenige Monate später, am 26. Oktober 1955, also genau heute vor 50 Jahren, wurde das Bundesverfassungsgesetz über die immerwährende Neutralität Österreichs im Nationalrat beschlossen.

Nach anfänglichen Diskussionen hat sich die Neutralität unseres Landes zu einem wichtigen Element für das Selbstverständnis Österreichs und seine Rolle in der Staatengemeinschaft entwickelt.

Der Kern dieser Neutralität bleibt: Österreich nimmt an keinen Kriegen teil, schließt die Stationierung fremder Truppen auf österreichischem Staatsgebiet aus und es tritt Militärbündnissen nicht bei.

Natürlich haben wir im Lauf der Zeit unser Neutralitätsverständnis weiterentwickelt, wir sind den Vereinten Nationen beigetreten, wir sind Sitzstaat der UNO, wir sind jenes Land in dem die OSZE, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ihren Sitz hat, wir sind seit zehn Jahren EU Mitgliedsland, wir haben aber immer den Rahmen internationaler solidarischer Friedensbemühungen gewahrt

Die Neutralität ist bis heute in Bevölkerung und Politik auf breitester Basis akzeptierter Bestandteil unserer Verfassungsordnung und Identität.

Und wir haben einen Wächter, der Frieden, Sicherheit und unsere Neutralität garantiert, zu Land und in der Luft: das ist das Österreichische Bundesheer. Auch dieses Bundesheer ist heute fünfzig Jahre alt und es feiert seinen Geburtstag mit einer großen Militärparade auf der Ringstraße heute am Nachmittag. Und wir tragen auch die Verantwortung als Regierung, als Bevölkerung, als Gesamtstaat, dass dieses Bundesheer auch immer seinen Aufgaben gerecht werden kann und jene Ressourcen und Geräte hat, und jene finanziellen Mittel, die es für seine schwere Aufgabe braucht. Dazu bekenne ich mich.

30.000 Soldaten haben bisher an internationalen Auslandseinsätzen des Bundesheeres teilgenommen. Auch in diesen Tagen stehen österreichische Soldaten an zahlreichen Brennpunkten im Ausland im Friedensdienst. Gerade kommen die ersten Soldaten von der Sicherung freier Wahlen in Afghanistan zurück; gerade sind österreichische Soldaten in Pakistan im Erdbebengebiet unterwegs um die Wasserversorgung und den Wiederaufbau von Kinderdörfern und die Unterbringung von hunderten Menschen zu garantieren. Und diese österreichischen Soldaten waren unter den schnellsten, die im vom Erdbeben zerstörten Pakistan den Ärmsten helfen. Das zeigt, Österreich nimmt seine Verantwortung wahr.

Welchen Auftrag gibt uns die Vergangenheit in die Zukunft mit? Sind wir eigentlich zukunftsfest? Glauben wir Schlechtrednern, Verschwörungstheoretikern und Angstmachern? Sind wir Fatalisten oder glauben wir, wie Antoine de Saint-Exupéry, an die Gestaltbarkeit der Zukunft, wenn er meint: "Zukunft kann man bauen!"
   

Mir geht es nicht um einen blinden, rosaroten Zukunftsoptimismus, sondern um eine Haltung, die offen ist für das Neue und für die Gestaltung der Zukunft. Matthias Horx, ein in Wien lebender Zukunftsforscher, bringt das sehr gut auf den Punkt. Er schreibt: "Die Zukunft wird nicht rosig. Sie wird aber auch nicht schwarz. Und auch nicht grau. Sie ist ein Abenteuer. Ja, ich glaube fest daran: Überleben durch Wandel ist besser als Untergehen mit Prinzip!"

Und ich kann nur anfügen: Genau das ist eigentlich das österreichische Lebensprinzip. Ja, wir in Österreich haben uns gewandelt, sehr gewandelt in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Und genau das hat uns erfolgreich gemacht. Genau das macht uns zu einem der reichsten Länder Europas, genau das macht uns zum europäischen Exportmeister, genau das macht uns zu einem Standort, der Lebensqualität bietet wie kaum ein anderes Land auf unserem Kontinent.

Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Es geht darum, dass wir uns heute schon so verändern, dass wir in den entscheidenden Zukunftsbereichen topfit sind. Das ist die Formel jeder Zukunftspolitik, die im 21. Jahrhundert Erfolg haben will.

Ich habe gestern in der Zeitung über einen Vortrag eines amerikanischen Autors, Jeremy Rifkin, gelesen, der das europäische Modell und das ist zugleich auch unser europäisches Lebens- und Erfolgsmodell, weit über das amerikanische und über andere Lebensmodelle auf der Welt stellt. Wenn es um einen besseren "way of life" geht, schreibt er, dann ist Europa dabei, die USA zu überholen. Und dieses europäische, österreichische Lebensmodell zielt darauf ab, Lebensqualität der Gemeinschaft zu erhalten, soziale Sicherheit und dies mit höchster wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zu kombinieren. Wir haben auch in Österreich diese Herausforderungen angenommen:

Des demographischen Wandels: wir haben den Mut zum Kind mit vielen Maßnahmen gestärkt. Wir investieren heute wesentlich mehr als in der Vergangenheit in Bildung und Forschung. Wir haben das soziale Netz haltbar gemacht: Alleine die Erhöhung der Ausgleichzulage für die Ärmsten jetzt um 100 Euro seit dem Jahr 1999 ist ein Armutsschutz. Für die Ehepaare haben wir seit 1999 die Ausgleichszulage um 240 Euro angehoben. Die betriebliche Mitarbeitervorsorge, die Anpassung der Renten und Pensionen, das ist gelebter Armutsschutz und durch Wirtschafts-, Wachstums- und Beschäftigungsprogramme versuchen wir, die Arbeitslosigkeit nicht zu verwalten, sondern Arbeit zu vermitteln.

Und durch Reformen im Sicherheitsbereich und bei der Fremden- und Integrationspolitik versuchen wir, die berechtigten Sorgen und manche Ängste der Bevölkerung durch eine aktive Politik von Antworten, von Lösungen aufzunehmen ihr entgegenzukommen, anstatt sich bloß tatenlos zu wundern, wenn fremdenfeindliche Parolen da und dort auf fruchtbaren Boden fallen.

Auch der Sport und die Kultur sind uns ein besonderes Anliegen; Ich möchte nur die Kulturhauptstadt Graz erinnern und die Sicherung der Kulturausgaben auf vielfacher Ebene. Im Bereich des Sportes haben wir die Bundessportförderung von 29,0 Millionen Euro im Jahr 1999 auf 46,7 Millionen Euro angehoben und das Bundesheer unterstützt heute etwa 300 Spitzensportler in den Heeressportzentren. Auch dafür möchte ich dem Bundesheer sehr herzlich danken.

Eine weitere Lehre unseres Gedankenjahres lautet: Ja, wir waren und wir sind erfolgreich - aber wir sind es nicht allein. Alleine kann heute niemand erfolgreich sein. Wir brauchen Partner und Freunde. Wir brauchen gerade als kleines Land Netzwerke und Strukturen, auf die einfach Verlass ist.

Wir setzen bewusst auf unsere regionalen Partner, aber auch Länder wie Kroatien und die übrigen Länder des Balkans und Südost-Europas. Manche vermuten dahinter eine vorausschauende Strategie. Und ich verrate Ihnen ein großes Geheimnis: da ist eine ganz bewusste Strategie, die wir Österreicher seit einigen Jahren einsetzen.

Unser Sicherheitsnetz in Europa und in einer globalisierten Welt ist eine solche regionale Zusammenarbeit.

Trotz aller Skepsis, trotz aller berechtigter Vorbehalte gegen vielleicht zuviel und zu detaillierte Regelungen aus Brüssel, ist doch eines klar: Europa und die Mitgliedschaft Österreichs zur Europäischen Union ist ein enormer Gewinn für Österreich. Kein Land hat so viel vom Zusammenbruch des Kommunismus, vom Fall des Eisernen Vorhangs 1989, von der anschließenden Öffnung Mittel- und Osteuropas, vom EU-Beitritt und von der EU-Erweiterung profitiert wie Österreich. Was seit 1989 geschehen ist, hat uns Chancen eröffnet. Was in den letzten sechzehn Jahren seit 1989 geschehen ist, hat uns Chancen eröffnet. Und wir haben diese Chancen ergriffen.

Die Wettbewerbsfähigkeit Österreichs ist gesteigert worden; das Wachstum ist heute höher als ohne den EU Beitritt; das BIP pro Kopf ist deutlich angestiegen. Wir haben die Schweiz fast eingeholt. Fast jeder zweite Euro wird heute im Export von Gütern und Dienstleistungen bereits erwirtschaftet. Davon profitieren die Hälfte unserer Arbeitsplätze, 1,6 Millionen Jobs. Es gibt heute rund 150.000 Beschäftigte mehr als 1995. Die Ausgaben für Forschung sind gestiegen. Investiert wurde mehr denn je in Österreich, auch aus dem Ausland. Und 51.000 Österreicherinnen und Österreicher, junge Studenten, haben seit 1995 von den Austauschprogrammen profitiert.

Dies alles sind keine nackten Zahlen, sondern konkrete Erfolge, die jeder spüren kann.

Europa hat Österreich vieles gebracht. Aber auch Österreich hat viel in die Europäische Union eingebracht. Auch wir haben Europa ein bisschen verändert, wie es auch uns verändert hat. Es hat uns internationaler, wettbewerbsfähiger und stärker gemacht. Und deshalb werden wir bei der kommenden EU Präsidentschaft Österreichs auch gerne etwas für Europa leisten.

Neben den wichtigen inhaltlichen Aufgaben, die jede Präsidentschaft übernimmt, ist mir eines besonders wichtig:

Wir wollen in diesen sechs Monaten zuhören. Wir wollen die Bedenken, die Wünsche, die Ideen der Bürgerinnen und Bürger aufnehmen. Das ist etwas, was in der Vergangenheit zu wenig beachtet wurde. Die Bürger haben der Politik für das Projekt der europäischen Integration viel politischen Kredit gegeben. Aber der Kreditnehmer hat die Kreditgeber nicht ausreichend informiert und überzeugt, was mit diesem Vertrauensvorschuss wirklich passiert. Das Ergebnis waren dann negative Referenden in Frankreich und den Niederlanden. Das Ergebnis sind sehr schmerzliche Meinungsumfragen in der Einstellung zu den europäischen Institutionen. Kredit ist und bleibt Vertrauenssache - und die wohl kostbarste Währung in Europa ist das Vertrauen der Menschen in dieses europäische Zukunftsprojekt. Diesen Kredit, dieses Vertrauen wollen und müssen wir zurückgewinnen. Deswegen ist es wichtig, dass Europa zuhört, nicht nur wir, sondern alle in Europa. Mit unserer Initiative "Europa hört zu!" geben wir den Bürgerinnen und Bürgern die Gelegenheit, ihre Gedanken und Ideen, ihre Hoffnungen, Wünsche und Ängste zu Europa zu artikulieren.

Wir wollen eine EU, die nicht nur alles richtig macht, sondern vor allem das Richtige macht. Wir wollen daher eine EU, die in manchen Bereichen deutlich abspeckt - Stichwort Bürokratie und Regulierung -, dafür aber in anderen Bereichen an Stärke und Macht gewinnt - Stichwort Außenpolitik. Denn wir wissen als Österreicher nur zu gut: Gemeinsam können wir mehr bewegen.

Europa ist nicht schwach! Oft ist davon die Rede, dass das "amerikanische Modell" dem europäischen überlegen ist. Es ist daher ein Mehr an europäischem Selbstbewusstsein gefragt.

In Europa haben wir bei weitem keine derart große Einkommensschere zwischen gut- und schlechter Verdienenden wie in den USA. Es ist vielleicht schwieriger in Österreich oder Europa die sprichwörtliche Karriere "Vom Tellerwäscher zum Millionär" zu machen. Aber ein höheres Maß an Lebensqualität steht dafür auf der Habenseite.

Aber wir müssen auch neue Antworten finden, wenn wir diesen europäischen Lebenstraum bewahren wollen; zum Beispiel antworten auf die Fragen der Energieproblematik finden. Alternative Energieformen, wie z.B. die Brennstoffzelle werden in einer weniger Erdöl fixierten Wirtschaft bessere Entwicklungschancen haben. In der letzten Ausgabe der Zeitschrift "Der Spiegel" fand sich ein großer Artikel, wonach das größte Mineralölfeld Mitteleuropas in Österreich zu finden ist, und Österreich gleichsam das Versuchslabor einer zu Ende gehenden fossilen Wirtschaft werden kann. Es ist wichtig, dass wir uns dieser Verantwortung und Möglichkeit auch bewusst sind.

Vor sechzig, vor fünfzig Jahren, aber auch vor zehn Jahren hätte es sich wohl kaum jemand vorstellen können, dass unser Land im Herzen Europas so erfolgreich da steht, dass andere Länder uns manchmal auch als Vorbild für eine erfolgreiche Reformpolitik hernehmen, dass wir in Sachen Wirtschaft und sozialem Zusammenhalt ein europäisches Vorzeigeland sind.

Es hätte sich auch niemand vorstellen können, dass Österreich einmal den Vorsitz in der europäischen Staatenfamilie innehaben wird und so einen wichtigen Beitrag in dieser Zeit zur Weiterentwicklung Europas leisten kann.

Das alles ist aber heute Wirklichkeit und sogar gelebte Selbstverständlichkeit. Und das alles ist der Veränderungsbereitschaft und dem Mut zur Zukunft zu verdanken, der Österreich groß gemacht hat und der wichtiger denn je ist, wenn es um die Gestaltung unserer Zukunft geht. Daran wollen wir arbeiten.
     
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