Konkurrenzfähigkeit des europäischen Modells im globalen Wettbewerb  

erstellt am
27. 10. 05

Wien (wifo) - Die enttäuschenden Wachstumszahlen und die hohe Arbeitslosigkeit in Europa haben die Frage aufgeworfen, ob das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell bzw. welche seiner Varianten im verschärften internationalen Wettbewerb konkurrenzfähig ist. Die Konkurrenzfähigkeit und Akzeptanz des europäischen Modells ist auch Gegenstand des informellen Treffens der Staats- und Regierungschefs am 27. Oktober 2005 in Hampton Court bei London. Das WIFO hat eine von 10 Studien erarbeitet, die zu diesem Thema in Auftrag gegeben und bei einem Treffen zur Vorbereitung des Gipfels in London diskutiert wurden. • WIFO-Studie im Auftrag des Policy Network an der London School of Economics für den EU-Gipfel am 27. Oktober 2005

Das europäische sozioökonomische Modell zeichnet sich durch eine umfassende Verantwortung der Gesellschaft für die Wohlfahrt der Bürger aus, die Unterstützung im Falle von Krankheit, Berufsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit und Alter bietet. Die Arbeitsbeziehungen bauen auf sozialem Dialog, Gesetzen und Kollektivverträgen auf. Produkt- und Arbeitsmärkte sind stärker reguliert als in den USA. Transfers und Sachleistungen dienen dazu, die primären Einkommensunterschiede, wie sie sich durch Marktlöhne ergeben, einzugrenzen. Im Unterrichts- und Gesundheitswesen spielt die öffentliche Hand eine Rolle als Gestalter oder Anbieter.

Je nach der Ausprägung des Sozialstaates sind vier bis fünf Varianten dieses Modells zu unterscheiden: Im skandinavischen Modell übt der Staat eine stärker umverteilende Rolle aus, mit steuerfinanzierten Sozialleistungen und einer aktiven Arbeitsmarktpolitik. Im kontinentalen Modell von Frankreich, Deutschland, aber auch Österreich und Belgien sind die Sozialleistungen stärker an den Arbeitsmarktstatus geknüpft und werden durch Sozialabgaben (Lohnnebenkosten) finanziert, während sie im angelsächsischen Modell eher gezielt nach Bedürftigkeit zugeteilt werden. Im mediterranen Modell verbleibt der Familie ein größerer Teil der Verantwortung. Die neuen EU-Mitgliedsländer entwickeln teilweise eine eigene Variante mit Elementen aus den verschiedenen Modellen und dem starken Willen, ihre Standortqualität und ihr Pro-Kopf-Einkommen durch Direktinvestitionen und niedrige Steuersätze rasch zu verbessern.

Langfristig unterscheidet sich der Erfolg dieser Modellvarianten überraschend wenig. Die Wachstumsrate für die Periode 1960 bis 1990 liegt in allen Ländergruppen – wie im Durchschnitt der EU und in den USA – zwischen 3,4% und 3,6%; aufgrund des Aufholprozesses der Einkommen ist sie in den peripheren südlichen Länder und in Irland etwas höher. Größere Unterschiede ergeben sich seit 1990: Die USA und andere Länder in Übersee verzeichneten einen Wachstumsvorsprung vor der EU. In Europa erzielten die skandinavischen Länder ein rascheres Wachstum (2,3%) als der Durchschnitt der EU 15 (1,9%) und lagen in einem breiteren Wohlfahrtsvergleich (d. h. auch gemessen an Beschäftigung, Konsolidierung der öffentlichen Haushalte) ebenfalls voran. Ebenfalls relativ günstig schnitt Großbritannien ab, während das Wachstum in den Ländern mit dem "kontinentalen Modell" am geringsten war. Diese Gruppe dominierte allerdings mit den drei großen Ländern Frankreich, Deutschland und Italien den EU-Durchschnitt. Die südlichen Länder holten in dieser Periode weiter auf, ebenso jene Länder, die 2004 der EU beigetreten sind.

Auf den ersten Blick überrascht, dass die zwei gegensätzlichsten Modellvarianten – einerseits jene mit der liberalsten Ausrichtung (das angelsächsischen Modell der USA wie auch Großbritanniens), andererseits jene mit der weitestgehenden Verantwortung des Staates (Skandinavien) – erfolgreich auf die Herausforderungen der Globalisierung reagieren können. Sie verdanken dies teilweise unterschiedlichen Stärken: Das angelsächsische Modell profitiert von seiner Offenheit und Flexibilität, das skandinavische Modell von der starken Betonung von Innovation, Ausbildung, Weiterbildung sowie moderner Infrastruktur und aktiver Arbeitsmarktpolitik. Beide Modelle durchliefen Krisenphasen – in Großbritannien in den siebziger und achtziger Jahren, in Dänemark gegen Ende der achtziger Jahre, in Schweden und Finnland in den frühen neunziger Jahren.

Entscheidend ist, dass in den erfolgreichen Ländern erhebliche und kontinuierliche Reformen vorgenommen wurden, die – ungeachtet von ihrem Ausgangpunkt – vielfach in ähnliche Richtungen laufen:

  • Arbeit soll auch für Geringqualifizierte ausreichend entlohnt werden; dazu werden unterschiedliche Ansätze gewählt: Steuergutschriften, Negativsteuern, Mindestlöhne, Kombilöhne, Wiedereingliederungsbeihilfen. Ausbildung und Training werden forciert, besonders für Geringqualifizierte;
  • Es wird versucht, Flexibilität für Unternehmen zu kombinieren mit Sicherheit und Wahlfreiheiten für Personen. Teilzeitarbeitsverträge werden akzeptiert und befürwortet, aber nur unter den Bedingungen von Versicherungsschutz und anteiligem Erwerb von Pensionszeiten. Teilzeitarbeit soll für Männer und Frauen als bewusste Wahl von je nach Lebensphase zur Verfügung stehen.
  • Der "Qualität" der Staatsausgaben wird Augenmerk geschenkt – sie können dazu beitragen, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zu stärken, z. B. durch Investitionen in Ausbildung oder Infrastruktur.
  • Wachstum wird forciert als Motor für die Schaffung von Arbeitsplätzen, insbesondere durch Ausbildung, Weiterbildung und Zukunftsinvestitionen.


Die WIFO-Studie kommt zu dem Schluss, dass das europäische Modell die internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht beeinträchtigt, sofern die Anreize für Beschäftigung und Investitionen richtig gesetzt sind, Flexibilität und soziale Absicherung optimiert werden, Reformen mit einer positiven Perspektive erfolgen und durch eine proaktive Wirtschaftspolitik unterstützt werden.

Quelle: WIFO, Autoren: Karl Aiginger, Alois Guger

     
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