Ratsvorsitzender Schüssel im Hohen Haus  

erstellt am
30. 03. 06

Erklärung von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel vor dem Nationalrat zum Europäischen Rat vom 23./24. März

Herr Präsident!
Hoher Nationalrat!

Ich darf kurz zum Europäischen Rat Stellung nehmen. Am Anfang waren viele Themen und Ziele, die wir uns vorgenommen haben, sehr umstritten. Als wir im Hauptausschuss vorige Woche zusammengekommen sind, war es so, dass praktisch alle konkreten gemeinsamen Vorhaben von einer Mehrheit der Mitgliedstaaten abgelehnt beziehungsweise nicht akzeptiert wurden. Unserem Team ist es jedoch gelungen – ausdrücklich hervorheben möchte ich unseren ständigen Vertreter bei der EU, Botschafter Gregor Woschnagg, die Außenministerin, alle Fachminister, wirklich das gesamte Team –, alle Ziele, die wir uns vorgenommen haben, in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates unterzubringen. Das ist etwas, was nicht selbstverständlich gewesen ist.

Ein Zweites: Wir haben uns ganz bewusst vorgenommen, dass wir das österreichische Modell einer guten Zusammenarbeit – nicht ohne Diskussionen, aber eine echte, ehrlich gemeinte Zusammenarbeit – zwischen den verschiedenen Ebenen von Regierung und Sozialpartnern auch auf die europäische Ebene heben wollen. Daher haben wir – das geschah zum ersten Mal – die Vertreter der europäischen Sozialpartner zu den Beratungen des Europäischen Rates hinzugezogen. Der Vertreter der europäischen Gewerkschaften, Méndez, und der Vertreter der europäischen Arbeitgeber, Seillière, haben gemeinsam mit dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank ihre Vorstellungen vorgetragen, wie wir Wachstum und Beschäftigung in Europa beleben können.

Ich glaube, dass da eine österreichische Handschrift zu erkennen ist, etwas, das hoffentlich Schule macht, denn gemeinsam sind wir zweifelsohne stärker, als wenn jeder auf eigene Faust agiert.

Was ist also bei diesen Beratungen vereinbart worden, meine Damen und Herren, und zwar zunächst einmal im Bereich Wachstum und Beschäftigung? Wir sind nicht zufrieden mit der Entwicklung der ersten sechs Jahre der Lissabon-Strategie. Jetzt aber haben wir eine historische Chance: eine steigende Konjunktur, der Optimismus in den großen EU-Ländern wächst. In Frankreich besteht da vielleicht eine Sondersituation, aber sonst gibt es recht gute Erwartungen.

Ganz konkret haben wir uns vorgenommen, durch geeignete Maßnahmen vor allem hinsichtlich Rahmenbedingungen der bald 27 EU-Mitgliedstaaten zwei Millionen zusätzliche Arbeitsplätze jedes Jahr neu zu fördern, was ein Beschäftigungswachstum von etwa einem Prozent pro Jahr bedeutet. Das würde bis zum Jahre 2010 zehn Millionen Arbeitsplätze zusätzlich ergeben. Ein ganz wichtiges und konkretes Ziel – und dieses ist auch erreichbar, meine Damen und Herren!

Das ist natürlich nicht von den Regierungen oder von der Kommission zu schaffen, denn Arbeitsplätze werden von den Betrieben geschaffen, vor allem von den mittelständischen Betrieben, auch ein Thema, das zum ersten Mal breit auf europäischer Ebene diskutiert wurde. In der EU gibt es 23 Millionen Klein- und Mittelbetriebe – und diese sind unsere Hoffnung in Bezug auf Beschäftigungs- und zusätzliche Wachstumspolitik, und gerade auch was zusätzliche Arbeitsplätze betrifft.

Wenn wir diesen Betrieben das Arbeiten, das Unternehmen erleichtern, dann lebt die Hoffnung. Nochmals: Es ist das ein erreichbares Ziel! Nehmen Sie nur Österreich, eines der Länder, das da ja oft als Vorzeigeland genannt wird, genauso wie Dänemark, Finnland oder Schweden. Österreich gehört zu diesen drei, vier EU-Vorzeigeländern.

In Österreich werden wir heuer voraussichtlich ein Beschäftigungswachstum von 1,3 Prozent haben. Also: 1 Prozent Beschäftigungswachstum für alle ist erreichbar, eben mit Maßnahmen, die wir in Österreich längst umgesetzt haben. Viele Themen, die wir uns vorgenommen haben, finden sich jetzt im europäischen Arbeitsprogramm. So sollen zum Beispiel 85 Prozent aller 22jährigen eine allgemeine höhere Bildung abgeschlossen haben. Jeder junge Europäer soll bis Ende 2007 entweder einen Arbeitsplatz, eine Lehrstelle oder eine Weiterbildungsmöglichkeit angeboten bekommen – bis Ende 2010 sogar innerhalb von vier Monaten.

Weiteres Ziel: Reduzierung der Zahl der Schulabbrecher auf 10 Prozent. Das ist meiner Meinung nach überhaupt einer der wichtigsten Punkte, dass wir die jungen Menschen in dieser Wachstum- und Beschäftigungsstrategie nicht vergessen, sondern ihnen alle Chancen der Welt ermöglichen!

Im Bereich Forschung gibt es ganz konkrete Unterstützung durch das anfangs sehr umstrittene Europäische Institut für Technologie. Dazu hat es ja genau die gleiche Diskussion wie in Österreich gegeben: Die europäischen Universitäten haben sich gefürchtet, dass ihnen Geld weggenommen wird, das Max-Planck-Institut beispielsweise oder auch andere Institutionen haben die Sorge geäußert, das Parallelbürokratien entstehen würden. Wir haben ein Ja zum Europäischen Institut für Technologie erreicht, aber: Da darf es keine Mega-Bürokratie geben, sondern das hat ein schlankes und schlagkräftiges Netzwerk zu sein.

Wir werden heute mit dem Beschluss zum österreichischen IST, dem Institute of Science and Technology, goldrichtig liegen, denn damit haben wir den Anschluss an diese europäische Strategie geschafft.

Ganz konkret ist auch das gemeinsame Ziel: drei Prozent für Forschung. Das war weit, weit entfernt – wir liegen jetzt bei zwei Prozent. Zum ersten Mal ist es uns gelungen, dass wir in einem Annex festgeschrieben haben, was jedes einzelne Land leisten muss, um dieses gemeinsame Ziel – die Steigerung des Forschungszuwachses pro Jahr – zu erreichen.

Wir haben uns daneben noch vorgenommen, den Mittelstand besonders ins Zentrum zu rücken. Wir wollen geringere Gebühren, vereinfachte Berichtspflichten in der Statistik, ein wichtiges und zugleich ärgerliches Thema für alle Klein- und Mittelbetriebe, umsetzen. Wir haben den Auftrag an die Kommission erteilt, dass sie berechenbare und quantifizierbare Richtlinien vorlegt, wie man die Verwaltungskosten für kleine Betriebe senken kann. Das haben die Niederländer exzellent vorexerziert, und wir werden uns überlegen, ob wir nicht dieses Modell, das jetzt auch die Kommission prüft, auf Österreich übertragen wollen.

Wir wollen es einem Jungunternehmer ermöglichen, innerhalb einer Woche einen Betrieb gründen zu können; wir wollen eine zentrale Anlaufstelle, einen One-Stop-Shop bis 2007 schaffen. Die Kommission hat nach längerem Widerstand sogar zugestimmt, die Höhe der so genannten De-minimis-Regel, unterhalb der keine Überprüfung mit Verzerrung des Binnenmarktes durch die Kommission stattfindet, zu verdoppeln. Damit ist eine langjährige Forderung Österreichs erstmals erfüllt.

Wir haben die Europäische Investitionsbank in die Pflicht genommen. Sie wird jetzt für Forschung, für die Transeuropäischen Netze und die Mittelstandsfinanzierung wesentlich mehr Geld ausgeben, für Mittelstand und F & E 15 Milliarden Euro zusätzlich und für Energieeffizienz und Transeuropäische Netze ebenfalls 25 Milliarden Euro zusätzlich. Ganz konkrete Maßnahmen, die mithelfen werden, das Ziel, zwei Millionen Jobs pro Jahr zusätzlich, erreichen zu können.

Sehr spannend war natürlich die Debatte um die neue Energiepolitik. Das ist ein neues Thema, sicherlich auch durch den „Weckruf“ Anfang des Jahres hervorgerufen, als die Gaslieferungen von Russland halbiert wurden. Bundesminister Martin Bartenstein hat innerhalb von vier Tagen durch sehr kluge und umsichtige Verhandlungen die Lieferkapazität wieder voll herstellen können. Es war das ein sehr gutes Zusammenspiel mit der Kommission, mit Russland, mit der Ukraine, mit allen Bereichen also.

Dieses Thema der neuen Energiepolitik zu debattieren, Versorgungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit stärken und dazu die Umweltqualität, die Umweltverträglichkeit erhöhen und verbessern, war natürlich eine sehr spannende Diskussion, eingeleitet durch Angela Merkel. Wir haben uns einige konkrete Ziele vorgenommen:

Erstens: Der grenzüberschreitende Stromhandel soll zehn Prozent erreichen, was ein wichtiges Thema ist, weil damit natürlich auch die Netze gestärkt werden müssen und wir damit einander auch in einem Krisenfall besser helfen können. Es hat schon etliche Blackouts gegeben, in der Schweiz, in Hessen, in Italien, in Großbritannien. Das ist also ein ganz wichtiger Bereich.

Nächstes Ziel: Stärkung und Steigerung des Gesamtanteils der erneuerbaren Energie auf 15 Prozent – sehr umstritten anfangs. Wir sind im Moment weit von diesem Ziel entfernt, aber es ist erreichbar, wenn wir die Bremsklötze wegräumen und mehr Kraftwerke zulassen. Vor allem im Bereich Wasserkraft liegen enorme Reserven brach. Da können wir über die Möglichkeiten an privatem Kapital an die 1.000 Milliarden Euro freimachen für den Ausbau der Netze, für neue Kraftwerke, für Pipelines. Da stecken Job-Chancen drinnen, die mit diesen Beschlüssen jetzt leichter realisiert werden können.

Wir haben uns vorgenommen, den Einsatz der Biotreibstoffe deutlich anzuheben, und zwar auf acht Prozent. Ehrlich gesagt, ich wäre sogar noch ehrgeiziger gewesen, aber da ist noch sehr viel Forschungsarbeit zu leisten. Die zweite Generation der Bio-Treibstoffe ist abzuwarten. Wir brauchen neue Motoren. Die jetzigen werden kaputt, wenn man mehr als fünf oder fast sechs Prozent dazumischt. Aber in diesem Bereich steckt Potenzial.

Weiters ein ganz wichtiger Beschluss: Gemeinsam wollen wir uns eine Energieeinsparung von etwa 20 Prozent vornehmen.

Für die nächste Zeit – und das gehört ja zu diesem Rat noch dazu – haben wir uns vorgenommen, vor allem im Trilog mehr Klarheit durch die neue Finanzvorschau für das Budget für die Jahre 2007 bis 2013 zu schaffen. Der Finanzminister wird in diesen Tagen mit allen Ländern, mit dem Parlament und mit der Kommission entscheidende Gespräche führen.

Wir bereiten eine Subsidiaritätskonferenz vor, die in der Woche nach Ostern in St. Pölten unter österreichischem Vorsitz, stattfinden soll.

Die Erweiterungsdebatte, vor allem die Frage der Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union, ein Thema, das die Außenministerin ja immer schon massiv eingefordert hat, wird jetzt von allen akzeptiert und soll auch in einem Sondergipfel der Außenminister über die Zukunft Europas Ende April/Anfang Mai abgesichert werden.

Wir wollen das europäische Lebensmodell nicht nur diskutieren, sondern auch konkret niederschreiben. Und wir wollen den 9. Mai als Europatag zu einer solchen breiten Diskussion nützen.

Wir arbeiten an der Errichtung einer Europäischen Grundrechtsagentur in Wien. Vielleicht könnte dort sogar auch das Institut für Gleichbehandlung – „gender equality pact“ – angesiedelt werden.

Wir wollen dann im Juni-Rat eine Choreographie für die nächsten Schritte im Prozess der Europäischen Verfassung unterbreiten.

Meine Damen und Herren, wir haben also ein reiches Arbeitsprogramm. Wir sind dabei nicht schlecht unterwegs. Vieles ist bereits geschehen, wie etwa diese Woche der höchst interessante Abschluss Europäischer Führerschein, Europäische Wegekostenrichtlinie, Themen, die seit vielen Präsidentschaften unerledigt geblieben sind. Aber viel Arbeit haben wir noch vor uns. Wir zählen dabei auf Ihre Unterstützung!
     
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