Plassnik: Subsidiarität eines der Heilmittel gegen Gefühl mangelnder Bürgerbeteiligung  

erstellt am
20. 04. 06

Deblockierung in der Frage des Verfassungsvertrags momentan nicht realistisch
St. Pölten (bmaa) - „Diese Subsidiaritätskonferenz ist ein Frischeschub, eine Konferenz der Muntermacher und der Mutmacher. Das ist genau das, was wir derzeit in Europa brauchen. Eine Fülle an Goldkörnern wurde hier ausgebreitet, eine Fülle von umsetzbaren konkreten Vorschlägen formuliert. Subsidiarität ist der Klebstoff zwischen den verschiedenen Ebenen des europäischen Geschehens. Dies bedarf aber auch der Kontrolle“, betonte Außenministerin Ursula Plassnik in ihrem Eröffnungsstatement im Rahmen der Europäischen Subsidiaritätskonferenz „Europa fängt zu Hause an“. „Die Europäische Union ist eine lernfähige Organisation. Das Potential für ein besseres und respektvolleres Zusammenwirken der verschiedenen Ebene in dieser neuen Europäischen Union ist noch lange nicht erschöpft. Wir müssen Europa als Kontinent der Zuversicht betrachten, denn unsere eigene Verzagtheit ist das größte Hindernis für ein gutes Fortkommen des Europäischen Projekts“, so Plassnik weiter. Die Ratsvorsitzende und Außenministerin versprach die zahlreichen Anregungen aufzugreifen und im Rat für Außenbeziehungen zu thematisieren.

Die Inhalte dieser Konferenz entsprechen den Schwerpunktsetzungen des österreichischen Ratsvorsitzes, betonte Plassnik. „Unser Schwerpunkt liegt in der Stärkung des Vertrauens. Wir sind auf der Suche nach "vertrauensstärkenden Substanzen". Die Subsidiarität gehört zweifellos dazu“, präzisierte die Ratsvorsitzende. "Auch wenn Subsidiarität ein sperriger Begriff ist - die Bürgerinnen und Bürger verstehen genau, worum es geht", zeigte sich Plassnik zuversichtlich. „Subsidiarität entspricht einer praktischen Lebenserfahrung. Sie entspricht der Erfahrung, die jeder von uns in seiner Familie, an seinem Arbeitsplatz, in seiner näheren Umgebung, in seiner Gemeinde macht. Wir müssen dort Regulierungen schaffen, wo es Sinn macht, wo es überschaubar ist und wo ein Mehrwert erzielt werden kann“, so Plassnik

In ihrer Einleitung ging die Außenministerin auch auf das geplante informelle Treffen der Außenminister zur Zukunftsdebatte ein. „Wir müssen realistisch sein. Wir sollten uns selbst vor Illusionen hüten und keine Illusionsbewirtschaftung betreiben. Hier möchte ich ganz klar warnen: Es ist nicht realistisch anzunehmen, dass unter österreichischer Präsidentschaft, etwa im Juni, eine Deblockierung in der Frage des Verfassungsvertrags erfolgen kann. Das liegt nicht etwa am mangelnden Einsatz oder am mangelnden Willen des österreichischen Vorsitzes, sondern vielmehr liegt es daran, dass die Diskussion in einigen Mitgliedstaaten noch nicht ausgereift ist, und deshalb eine Lösung in der Sache momentan nicht möglich ist. Das bedeutet aber alles andere als Schweigen und Diskussionsverweigerung. Denn eben dies würde ich für einen Giftstoff und keine vertrauensstärkende Vorgangsweise ansehen. Wir müssen miteinander reden und wir dürfen keine Scheu auch vor schwierigen Fragen zeigen“, betonte Plassnik.
   

Erklärung der Vorsitzenden

  1. Als Teil der europäischen Zukunftsdebatte veranstaltete der österreichische EU-Ratsvorsitz am 18. und 19. April 2006 gemeinsam mit dem österreichischen Parlament und dem Bundesland Niederösterreich die Europäische Subsidiaritätskonferenz 2006 „Europa fängt zu Hause an“. Vertreterinnen und Vertreter der EU-Mitgliedstaaten sowie der EU-Institutionen diskutierten gemeinsam mit Expertinnen und Experten über Mittel und Wege, eine effektivere Anwendung des Subsidiaritätsprinzips im europäischen Rechtsetzungsprozess zu erreichen und dadurch einen Beitrag zu mehr Bürgernähe zu leisten.
  2. Wenn das europäische Projekt auch in Zukunft erfolgreich sein soll, müssen die Bürgerinnen und Bürger wieder mehr Vertrauen in die EU gewinnen. Dazu müssen sich die Menschen in Europa wieder besser mit dem europäischen Integrationsprozess identifizieren können. Eine starke Union, die vom Willen ihrer Bürgerinnen und Bürger getragen wird, muss ihre Entscheidungen bürgernahe und für die Bürger verständlich treffen und bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben das richtige Gleichgewicht zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten zu finden.
  3. Die EU kann – so steht es in ihren Gründungsverträgen - nur dort tätig werden, wo ihr die Mitgliedstaaten ausdrücklich eine Befugnis dazu übertragen haben. Im Zweifelsfall sind die Mitgliedstaaten zuständig - nicht die Union. Wo auch immer die EU keine ausschließliche Zuständigkeit hat, gilt das Subsidiaritätsprinzip, d.h. die Union kann nur tätig werden, wenn sie im Vergleich zu den Mitgliedstaaten einen Mehrwert erzielen kann. Damit ist der Grundsatz der Subsidiarität auch ein Garant für die Erhaltung der nationalen und regionalen Identität, Kultur und Eigenständigkeit.
  4. In sämtlichen Phasen des europäischen Rechtsetzungsprozesses muss sowohl durch europäische als auch durch nationale Akteure überwacht werden, dass die Grundsätze von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit respektiert werden. Im Einzelfall muss die Einhaltung des Grundgedankens der Subsidiarität auch gerichtlich kontrolliert werden können.
  5. Die Regionen und Gemeinden tragen eine Mitverantwortung für eine bürgernahe europäische Politik. Sie haben den direkten Kontakt zur Bevölkerung und sind dadurch in der Lage, die Anliegen und Sorgen der Bürgerinnen und Bürger in den europäischen Rechtsetzungsprozess einzubringen. Sie sollen im Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern den Europagedanken, die Bedeutung und die Ziele der EU noch mehr als bisher bewusst machen und dazu beizutragen, dass sich die Menschen mit Europa und seiner Rechtsordnung identifizieren können.
  6. Die Europäische Kommission wird eingeladen, die Regionen und Gemeinden verstärkt und möglichst frühzeitig bei der Vorbereitung von Rechtsetzungsvorschlägen einzubinden, damit europäische Regelungen bürgernahe formuliert werden. Sie wird weiters ersucht, im Rahmen ihrer Folgenabschätzungen auch die Auswirkungen eines Rechtsetzungsvorschlages auf die lokale und regionale Ebene zu berücksichtigen. Der Ausschuss der Regionen wird eingeladen, sein Subsidiaritätskontrollnetzwerk weiter zu entwickeln, damit die Ergebnisse seiner Subsidiaritätsprüfungen bei der Formulierung europäischer Rechtsakte so weit wie möglich berücksichtigt werden können.
  7. Die europäischen, nationalen und regionalen Ausbildungsstätten für den öffentlichen Dienst werden eingeladen, ihre Fortbildungsprogramme zum europäischen Rechtsetzungsprozess stärker zu vernetzen und dabei den Subsidiaritätsgedanken und das partnerschaftliche Kooperieren aller Ebenen im Interesse der Bürger zu betonen.
  8. Die Bemühungen um eine Verbesserung der rechtlichen Möglichkeiten zur interregionalen Zusammenarbeit in Europa müssen als Beitrag zur Stärkung der lokalen und regionalen Komponente und als bewährtes Instrument des friedlichen grenzüberschreitenden Kooperierens gezielt fortgesetzt werden.
  9. Den nationalen Parlamente stehen grundsätzlich zwei Möglichkeiten offen, an der EU-Rechtsetzung mitzuwirken: einerseits über ihre nationalen Regierungen, andererseits durch die direkte Prüfung der Rechtsetzungsinitiativen der EU-Institutionen.
  10. Die nationalen Parlamente sind aufgerufen, die Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Subsidiaritätsprüfung, die ihnen die Protokolle zum Vertrag von Amsterdam einräumen, voll auszuschöpfen.
  11. Das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente sollten in regelmäßigen Abständen parallel zueinander die von den EU-Institutionen geplanten Rechtsakte im Hinblick auf das Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzip prüfen.
  12. Auf der Grundlage des geltenden EU-Rechts wird auch die Europäische Kommission ersucht, ihre Rechtsetzungsvorschläge nicht nur den europäischen Institutionen, sondern zeitgleich auch den nationalen Parlamenten zuzuleiten, und sie einer neuerlichen Überprüfung zu unterziehen, falls eine repräsentative Anzahl von nationalen Parlamenten begründete Zweifel an deren Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip vorbringt.
  13. Die Mitgliedstaaten werden eingeladen, zu prüfen, wie sie ihren nationalen Parlamenten die Möglichkeit einräumen können, im Falle einer Verletzung des Subsidiaritätsprinzips über ihre Regierungen den Europäischen Gerichtshof (EuGH) anzurufen.
  14. Die nationalen und regionalen Parlamente haben in ihren jeweiligen Rechtsordnungen unterschiedliche Wege und Prozesse für die Subsidiaritätsprüfung. Dennoch können der laufende Erfahrungsaustausch und die gemeinsame Suche nach „best practices“ eine wichtige Rolle spielen. Die nationalen Parlamente werden ermuntert, ihre Zusammenarbeit bei der Subsidiaritätsprüfung im Rahmen der Konferenz der Europaausschüsse (COSAC) weiter auszubauen. Die regionalen Parlamente werden weiters ermuntert, ihre diesbezügliche Zusammenarbeit im Rahmen des Ausschusses der Regionen verstärkt fortzusetzen.
  15. Die Initiativen der Europäischen Kommission zur Verbesserung der Qualität europäischer Rechtsakte werden als Beitrag zu einer europaweiten Subsidiaritätskultur ausdrücklich begrüßt. Vermehrtes Augenmerk wäre darüber hinaus auch der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips bei der Vollziehung von Gemeinschaftsrecht zu schenken.
  16. Die Europäische Kommission ist aufgerufen, bei der Prüfung des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Rahmen ihrer Folgenabschätzungen noch mehr als bisher auf objektiv nachvollziehbare Daten und Fakten abzustellen und dies in die Begründungen für ihre Rechtsetzungsvorschläge aufzunehmen. Zudem wird sie ermuntert, die von ihr entwickelte Methode zur Messung administrativer Belastungen für Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen konsequent weiter einzusetzen.
  17. Auch im Rahmen der Vereinfachung des europäischen Rechtsbestandes sollte verstärkt geprüft werden, ob die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit eingehalten wurden. Um die administrativen Lasten für die Wirtschaft wie auch für die Bürgerinnen und Bürger möglichst gering zu halten, sind die Mitgliedstaaten aufgerufen, auch auf nationaler Ebene Initiativen zum Bürokratieabbau zu setzen.
  18. Der Rat, das Europäische Parlament und die Europäische Kommission werden eingeladen, einen einheitlichen Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeits-Prüfbogen für das Rechtsetzungsverfahren zu entwickeln. Damit könnte die europäische Rechtsetzung besser auf jene Bereiche konzentriert werden, in denen sie deutliche Vorteile gegenüber einzelstaatlichem Handeln erbringen kann. Der Prüfbogen kann dann auch als Grundlage für die Subsidiaritätsprüfung durch die nationalen Parlamente dienen.
  19. Wenn die Einhaltung von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit nach klaren Kriterien untersucht wird, dann lässt sie sich auch leichter gerichtlich überprüfen. Der EuGH nimmt bei der Auslegung und Überprüfung der Einhaltung des europäischen Rechts eine zentrale Rolle ein. Ergänzend zu den Bemühungen des Rates, des Europäischen Parlaments und der Kommission um eine verstärkte Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips wird der EuGH ermutigt, dem Vorbringen von Verfahrensbeteiligten betreffend die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips bei seiner Entscheidungsfindung besondere Beachtung zu schenken.
  20. Es wäre zu begrüßen, wenn sich der EuGH vermehrt mit Argumenten von Mitgliedstaaten auseinander setzt, die sich auf die sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Auswirkungen einer möglichen Entscheidung beziehen. Der bevorstehenden Entscheidung des EuGH in einem Verfahren, welches sich mit der zeitlichen Rückwirkung von Vorabentscheidungsurteilen befasst und an dem sich zahlreiche Mitgliedstaaten beteiligen, wird mit Spannung entgegen gesehen.
  21. Als Beitrag zu einem noch besseren gegenseitigen Verständnis auf der Ebene der europäischen Gerichtsbarkeit wird schließlich ein verstärkter Informationsaustausch mit nationalen Höchstgerichten angeregt.
  22. Die Vorsitzenden begrüßen den von den Konferenzteilnehmern geäußerten Willen, auch im Rahmen der kommenden Präsidentschaften an der effektiven Anwendung des Subsidiaritätsprinzips weiterzuarbeiten.
     
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