erstellt am
27. 04. 06

61 Jahre Zweite Republik
Erklärung des Bundeskanzlers zur 61.Wiederkehr des Tages der Wiedererrichtung der Republik Österreich am 27. April 2006
Wien (bpd) - Bundeskanzler Wolfgang Schüssel erinnert anlässlich der 61. Wiederkehr des Tages der Befreiung Österreichs an die positive Entwicklung und die Erfolge Österreichs.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Bundesregierung,
meine sehr geehrten Damen und Herren!

2006 ist mit dem EU-Ratsvorsitz also mehr als andere Jahre ein „Jahr der Zukunft“: Es geht heuer in vielen Fragen ganz entscheidend um die Zukunft unseres Europa und die Zukunft Österreichs in Europa!

Das „Gedankenjahr 2005“, mit den Wendemarken 1945, 1955 und 1995 im Blickfeld, war – nicht nur, aber auch - ein volles Jahr der Zeitgeschichte! Wir haben unsere jüngere und jüngste Geschichte in überraschender Breite und Tiefe erforscht. Wir haben das nicht akademisch abgehoben getan, sondern haben uns bemüht, alle mitzunehmen auf diese Bilderreise von Elend, Not, Zerstörung, Größenwahn, Verrat, Niedertracht, Unmenschlichkeit – aber auch Bilder von Heldenmut, Unbeugsamkeit, Fleiß, Zuversicht und vom Lernen, Wiedergutmachen und Verzeihen.

Wie jedes Jahr feiern wir heute den Jahrestag eines für uns historisch bedeutsamen Augenblicks: Am 27. April 1945, zwei Wochen vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, haben Karl Renner, Adolf Schärf, Leopold Kunschak und Johann Koplenig im Wiener Rathaus unter der Patronanz der Sowjetarmee die österreichische Unabhängigkeitserklärung unterschrieben: „Die demokratische Republik Österreich ist wiederhergestellt und im Geiste der Verfassung von 1920 einzurichten. Der im Jahre 1938 dem österreichischen Volke aufgezwungene Anschluss ist null und nichtig.,“ heißt es darin.

Diese Proklamation war ein Signal an die Westmächte, dass sich in dem von der Sowjetunion besetzten Teil Österreichs eben kein Satellitenstaat gebildet hat und bilden will. In diesem Text ist eine Mitbeteiligung von Österreichern am NS-Terrorregime mit keinem Wort erwähnt. Aber die österreichischen Mitbürgerinnen und Mitbürger haben wohl zu genau gewusst, wer den Anschluss gefordert und gefördert hat und wer davon profitiert hat. Dieser Aufruf war der frühest mögliche österreichische Hilferuf in die zivilisierte Welt hinaus!

Und er war auch an alle vier alliierten Mächte gerichtet, die zur selben Stunde noch fanatische Reste der Deutschen Wehrmacht und SS in Österreich niederzukämpfen hatten. Vergessen wir nicht: Adolf Hitler hat es noch erlebt, fast noch eine gewisse Genugtuung für uns, dass sich Österreich als Republik von seinem Dritten Reich getrennt hat. Er hat sich genau drei Tage später umgebracht.

Auch heute, am 61. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung, ist ihren weitsichtigen Vätern uneingeschränkt und einmütig zu danken. Sie ist kein wahrheitswidriges opportunistisches Konstrukt. Im Gegenteil, sie bildet das Fundament, auf dem diese Republik steht: Mit der Unabhängigkeitsproklamation beginnt auch das Bundesgesetzblatt, das damals noch Staatsgesetzblatt geheißen hat! Vergessen wir auch nicht, dass zwei Drittel der ersten provisorischen österreichischen Bundesregierung direkt aus dem Konzentrationslager gekommen sind.

Meine Damen und Herren!

In wenigen Tagen feiern Österreich und die Welt den 150.Geburtstag von Sigmund Freud. Er hat uns Einsichten und Begriffe hinterlassen, mit denen wir allerdings in den politischen Debatten sehr vorsichtig umgehen müssen. Wir sollten den Einzelfall untersuchen, wenn wir von Verdrängung sprechen - von jenem Abwehrmechanismus, in dem bedrohliche oder unangenehme Erlebnisse vom Bewusstsein ausgeschlossen werden, deren psychische Energien aber im Unbewussten weiterwirken.

Millionen verschiedener Lebensgeschichten lassen sich nicht reduzieren auf ein einziges kollektives Bewusstsein und auf dessen Fehlhaltungen oder Fehlstellungen. Der Politik steht nicht die gesamthafte Seelentherapie als Heilmittel zu, sondern die Gesetzgebung. Wer heute die sogenannte „österreichische Seele“ analysieren will, muss dabei auch berücksichtigen, dass jeder achte Österreicher nicht in Österreich geboren ist.

An den Österreichischen Nationalfonds, an den Versöhnungsfonds für die Entschädigungszahlungen an Zwangsarbeiter sowie an den mit dem bis jetzt noch nicht verteilten Geld eingerichteten Zukunftsfonds und an die Rückstellungen von Kunstwerken und Immobilien ist zu erinnern. Sie haben mitgeholfen, die Folgen von mehr als sechzig Jahre alten Unrechts zu mildern. Von der Öffentlichkeit ziemlich unbemerkt, ist im Dezember 2005 auch der lange verzögerte Rechtsfriede vor amerikanischen Gerichten nach dem Entschädigungsfonds-Gesetz 2001 in Kraft getreten. Für uns in der Bundesregierung, das sage ich mit großer Freude und Nachdruck, war das der denkbar würdigste Abschluss des an Jubiläen reichen Gedankenjahres 2005.
   

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ein halbes Jahr nach Ende des Zweiten Weltkrieges, am 25. November 1945, konnten in Österreich die ersten freien Wahlen – wirkliche Schicksalswahlen – stattfinden.

Und am 21. Dezember 1945 gab Leopold Figl seine erste Regierungserklärung vor dem Nationalrat ab: „Wir Österreicher werden niemals unsere große Verpflichtung gegenüber Europa und der Welt vergessen!“, lautet einer der Schlüsselsätze in seiner beeindruckenden und berührenden Rede.

Österreich ist auch in die Staatenfamilie zurückgekehrt. Als Mitglied der Vereinten Nationen hat es seit 1955 – etwa im Rahmen zahlreicher UN-Friedensmissionen – wichtige solidarische Beiträge zum Frieden in der Welt leisten können.

Aber auch seiner Identität als europäische Nation und seinen europäischen Verpflichtungen ist Österreich – ganz im Sinne Figls – immer nachgekommen: Am 16. April 1956, also vor 50 Jahren - die Frau Außenministerin hat daran erinnert - ist Österreich dem Europarat beigetreten, der sich als eine „Wertegemeinschaft“ deklariert mit den Zielen, ein gemeinsames Erbe zu bewahren und den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern.

Und schließlich hat Österreich auch den Weg der Europäischen Integration zielstrebig verfolgt: Er hat uns 1995 in die Europäische Union geführt.

Im Jahr 1998 hatte Österreich zum ersten Mal den EU-Vorsitz inne. Es ist bemerkenswert, wie sich die Geschichte dann vollendet. Damals haben wir in unserem Vorsitz zehn neuen Mitgliedsstaaten den Weg in die Union eben können.

Gestern hat der Nationalrat mit großer Geschlossenheit den Beitrittsvertrag Rumäniens und Bulgariens ratifiziert, ein wichtiger Akt, für den ich mich namens der Bundesregierung bei unserem Hohen Haus ausdrücklich bedanken möchte.

Beim informellen Außenministertreffen im März hat Österreich in der „Salzburger Erklärung" zum Westbalkan unter dem Vorsitz unserer Außenministerin seine besondere Verbundenheit mit dieser für unser Land und für ganz Europa so wichtigen Region in die Waagschale werfen können.

Wenn es um das künftige Aussehen Europas geht, spielt Österreich eine besonders engagierte Rolle!

In diesem Halbjahr ist Österreich zum zweiten Mal Vorsitzland der Europäischen Union. Wir tragen gemeinsam die Hauptverantwortung und Hauptlast für Europa in dieser schwierigen Phase.

Wir haben uns gut vorbereitet, denn es war uns bewusst, dass diese Aufgabe nach der Erweiterung vom 1. Mai 2004 eine neue Dimension hat.

Dieser Ratsvorsitz hat Österreich in einem bisher ungekanntem Ausmaß eine Mitverantwortung an der Gestaltung der Debatten und Entscheidungs-Prozesse der Fünfundzwanzig auferlegt:

Die Erdgaskrise zu Jahresbeginn konnte innerhalb von vier Tagen bewältigt werden, und im Krisenmanagement nach der Karikaturenaffäre hat Europa bei Regierungen islamischer Staaten seine Standards in der Kunst- und Meinungsvielfalt deutlich dargestellt – und zugleich nach Innen den selbstverständlichen Respekt vor religiösen Zeichen und Symbolen eingemahnt.

Schon im Jänner konnte ein wichtiger umweltpolitischer Erfolg errungen werden: Österreich brachte das Vermittlungsverfahren zwischen Europäischem Parlament und dem Rat zur Reduktion gefährlicher Treibhausgase erfolgreich zu Ende.

Die Herausforderung des Kampfes gegen die Ausbreitung der Vogelgrippe war und ist eine zentrale Aufgabe der Gesundheitsminister, der sie unter österreichischem Vorsitz durch eine Abstimmung der Pandemie-Strategien nachkommen.

Beim Frühjahrsgipfel haben wir besonders auf konkrete Verpflichtungen und Ziele für Wachstum und Beschäftigung Wert gelegt. Damit stellen wir auch auf europäischer Ebene die Weichen klar für eine Politik, die die größten Sorgen der Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt stellt.

Gleiches gilt für die Sicherheit der Energieversorgung: Hier ist ein echter Durchbruch gelungen, ohne die für uns so entscheidende Freiheit in der Wahl der Energiequellen anzutasten.

Die überfällig gewesene Einigung in der Finanzvorschau 2007 bis 2013 konnte erfolgreich unter Dach und Fach gebracht werden. Bereits zu Jahresbeginn haben wir den jahrelangen Streit um die Mehrwertsteuersätze lösen können.

Europäischer Führerschein und die Finalisierung der für uns als Transitland zentralen Wegekostenrichtlinie sind verkehrspolitische Erfolge dieser Präsidentschaft.

Die Justiz- und Innenminister haben das europäische Mahnverfahren, das von besonderer Bedeutung im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr ist, beschlossen und sich auf Harmonisierungsschritte im Asylrecht grundsätzlich verständigt.

Die Stärkung der sozialen Dimension Europas ist einer der Arbeitsschwerpunke des österreichischen Vorsitzes: Von der erstmaligen Einbindung der Sozialpartner in den Frühjahrsgipfel bis zur Auseinandersetzung mit wichtigen Fragen der Jugendpolitik verfolgen wir sehr konsequent diese Grundlinie.

Und auch der Subsidiarität - Europa beginnt zu Hause- , die nichts anderes als Bürgernähe bedeutet, war eine eigene, viel beachtete Fachkonferenz gewidmet.

Die seit langem heiß diskutierte Dienstleistungsrichtlinie konnte beim informellen Rat Wettbewerb in der Vorwoche auf einen viel versprechenden guten Weg gebracht werden, der hoffentlich in Bälde zu einer endgültigen Einigung führt.

EU-Treffen mit China, Russland, Indien, Indonesien, Japan und den USA festigen die wichtigen strategischen Bindungen mit diesen Partnerländern. Große Bedeutung kommt dem bisher größten Lateinamerika- und Karibik-Gipfel mit den Europäern in Wien im Mai zu. Und auch in der Debatte um die Zukunft Europas, der Verfassungsdebatte, sind wir gemeinsam mit unseren Partnern intensiv auf der Suche nach neuen Impulsen, die natürlich die nächsten Präsidentschaften genauso beschäftigen werden.

Österreich hat mit seinem Ratsvorsitz der europäischen Familie viele Facetten seiner Kultur näher bringen können: so in Salzburg und Wien zum Mozart-Jubiläum, in Brüssel mit Konzerten, mit Ballett und mit Ausstellungen von Kostbarkeiten der Wiener Werkstätte und von Schaustücken aus eineinhalbtausend Jahren der europäischen Geschichte Österreichs. Was österreichische Identität ist und was sie für Europa bedeutet, hätte mit noch so vielen Worten nicht besser dargestellt werden.

Ich ziehe vorläufig eine positive Zwischenbilanz über den Ratsvorsitz, der letztlich von allen anderen beurteilt werden wird und nicht von uns, und danke daher heute allen, die mit Fleiß und Leidenschaft im Rahmen der Ratspräsidentschaft ihr Bestes geben, die sie begleiten und allen, die sich mit europäischen Fragen engagiert auseinandersetzen!

Wir haben den österreichischen EU-Vorsitz unter das Motto „Europa hört zu!“ gestellt. Mein Dank gilt daher in besonderer Weise auch jenen, die uns ihre Meinung zu Europa sagen: ihre Zustimmung, ihre Anregungen, ihre Kritik, ihre Anregungen, ihre Träume, ihre Wünsche, ihre Hoffnungen

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
     
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