Festakt zu Ehren Hans Kelsens im Parlament  

erstellt am
12. 10. 06

Der "Jurist des Jahrhunderts" gestaltete das B-VG maßgeblich mit
Wien (pk) - Mit einem Festakt beging das Parlament am 11.10. den 125. Geburtstag Hans Kelsens. An der Spitze der prominenten Teilnehmer und Festgäste – darunter Kelsens Enkelin Anne Marguerite Feder Lee, der Präsident des Verwaltungsgerichtshofs Clemens Jabloner, die Zweite Präsidentin des Nationalrats Barbara Prammer und Justizministerin Karin Gastinger – war Bundespräsident Heinz Fischer erschienen. Nationalratspräsident Andreas Khol beleuchtete die Leistungen des großen österreichischen Juristen Hans Kelsen und erinnerte daran, dass der Schöpfer der "Reinen Rechtslehre" maßgeblich am österreichischen Bundes-Verfassungsgesetz von 1920 mitgearbeitet und mit dem österreichischen Verfassungsgerichtshof das Vorbild für viele moderne Verfassungsgerichte geschaffen hat. Nach Khols Auffassung "stehe das österreichische Parlament auf den Schultern Kelsens", eines der prominentesten deutschsprachigen Demokratietheoretiker, dessen "Staatsrechtslehre" von luzider Klarheit sei. Nach dem Österreich Konvent und dem Besonderen Ausschuss wäre die Vollendung der Verfassungsreform nach dem Beispiel Kelsens in der kommenden Legislaturperiode eines der größten Projekte, die eine breite Zusammenarbeit in diesem Haus rechtfertigen würde, schloss der Nationalratspräsident seine einleitenden Worte.

Bundespräsident Heinz Fischer sprach von einer schönen Idee, den 125. Geburtstag Kelsens im Parlament zu feiern, in jenem Haus, das Hans Kelsen gut gekannt hat. Der Bundespräsident berichtete von persönlichen Begegnungen mit Hans Kelsen, in denen er dessen intellektuelle Kraft spüren und die weit gespannte Thematik seiner Arbeit kennen lernen konnte. Fischer ging auch auf Kelsens Entwürfe für eine bundesstaatliche, parlamentarische und demokratische Bundesverfassung ein und hielt im Hinblick darauf, dass sich der Österreich Konvent intensiv um eine Erneuerung der österreichischen Bundesverfassung bemühte, fest, dass der Ausgangspunkt der Reform die von Kelsen mitgestaltete Verfassung ist. Diese habe sich trotz aller Schwächen in der Zweiten Republik als ein Instrument erwiesen, das streng genug sei, den politischen Prozess in einem festen Rahmen zu halten und elastisch genug, um Veränderung, Erneuerung und Dynamik zuzulassen. Ausdrücklich würdigte der Bundespräsident schließlich den Politikwissenschaftler Kelsen, erwähnte dessen Klassiker "Vom Wesen und Wert der Demokratie" und machte darauf aufmerksam, dass für Kelsen der Parlamentarismus die einzig praktikable Form ist, in der die Demokratie in der sozialen Wirklichkeit realisiert werden könne.

Der Geschäftsführer des Hans Kelsen-Instituts Robert Walter würdigte in seinen Ausführungen Leben und Werk Kelsens und gab einen Überblick über dessen Karriere als Verfassungsrechtler und als Wissenschafter. Insbesondere beleuchtete Walter die Rolle Kelsens als Mitgestalter des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes. Die Wiener Schule der Rechtstheorie, deren Basis Kelsens "Reine Rechtslehre" war, habe sich dauernd weiter entwickelt, und auch heute könne keine ernsthafte juristische Arbeit an Kelsens "Allgemeiner Theorie der Normen" vorbeigehen. Abschließend wies Robert Walter auf die internationale Wirkung der Lehren Kelsens hin: Sein Werk "Vom Wesen und Wert der Demokratie" habe weltweit Anerkennung gefunden, 400 seiner Publikationen seien in 28 Sprachen übersetzt worden.

Der Leiter des Verfassungsdienstes im Bundeskanzleramt Georg Lienbacher vertrat Bundeskanzler Wolfgang Schüssel in dessen Funktion als Kurator der Bundesstiftung "Hans Kelsen-Institut". In seinen Ausführungen über das Wirken und die Bedeutung Hans Kelsens bezeichnete Lienbacher den verfassungsrechtlichen Konsulenten der Staatskanzlei nach dem Untergang der Monarchie als "Verfassungsdienstler der ersten Stunde", der vor allem auch für die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit eine Schlüsselrolle gespielt habe. "Wenn es einen Nobelpreis für Rechtswissenschaften gäbe" – so der gegenwärtige Leiters des Verfassungsdienstes Lienbacher – "hätte Kelsen ihn erhalten." Im Hinblick darauf zeigte sich Lienbacher erfreut über das Projekt einer wissenschaftlichen Gesamtausgabe der Werke Hans Kelsens und sagte diesem Vorhaben die Unterstützung des Bundeskanzlers zu.

Im Rahmen des Festaktes wurde ein von Matthias Jestädt in Kooperation mit dem Hans Kelsen-Institut herausgegebener Sonderband der "Hans-Kelsen-Werke" mit dem Titel "Hans Kelsen im Selbstzeugnis" präsentiert. Das Buch enthält die beiden autobiographischen Schriften Hans Kelsens, die "Selbstdarstellung" (1927) und die "Autobiographie" (1947). 126 Seiten stark, bietet der Band 46 Fotografien Kelsens in allen Lebensaltern. Erläutert wurde die im Tübinger Verlag Mohr Siebeck erscheinende Publikation von den Universitätsprofessoren Stanley L. Paulson (St. Louis) und Matthias Jesteadt (Erlangen).

Stanley L. Paulson setzte sich mit der Entwicklung der Rechtsphilosophie Kelsens auseinander und trat der gängigen These entgegen, Kelsen habe seinen Neukantianismus unter dem Einfluss des angelsächsischen Empirismus im Jahr 1960 aufgegeben. Paulson erinnerte daran, dass Hans Kelsen bereits am Ende der dreißiger Jahre im Rahmen ethnosoziologischer Forschungen über den Neukantianismus hinausging. Paulson ortete ein prinzipielles Spannungsverhältnis zwischen Empirismus und tranzendentalem Neukantianismus bereits in den Ursprüngen der Kelsenschen Rechtslehre am Beginn des 20. Jahrhunderts.

Matthias Jestaedt erläuterte dann das Konzept für die Herausgabe des Gesamtwerks von Hans Kelsen und machte auf den monumentalen Charakter dieses Vorhabens deutlich: Das in den sieben Jahrzehnten zwischen 1905 und 1973 entstandene Werk Kelsens umfasst 53 Monographien mit insgesamt 17.600 Seiten, die teils auf Deutsch, teils auf Französisch, teils auf Englisch verfasst wurden. Die Gesamtausgabe soll alle Originalschriften Kelsens in authentischer Gestalt, aber in moderner Form historisch-kritisch zugänglich machen. Dabei betonte Jestaedt die Absicht, dem Leser auch den Einfluss der Schüler Kelsens auf ihren Lehrer und dessen außerjuridische Quellen, etwa Sigmund Freud, sowie den Entstehungskontext der Werke und die Wechselbeziehungen zwischen Rechtstheorie, Politikwissenschaft, Völkerrecht und Sozialphilosophie nachvollziehbar zu machen. Die präsentierte Publikation "Hans Kelsen im Selbstzeugnis" stelle gewissermaßen die "Nullnummer" für die Gesamtausgabe dar.

Das Porträt Hans Kelsens, das Parlamentsbesucher im ehemaligen Tagungsraum des Verfassungsausschusses betrachten können, wo Hans Kelsen als Experte am Bundes-Verfassungsgesetzes mitarbeitete, zierte heute den Plenarsaal des Nationalrates, in dem der Festakt stattfand. Das Bild zeigt den Gelehrten im Alter von 70 Jahren und wurde von Ulrich Gansert posthum angefertigt.

Für die musikalische Umrahmung der Veranstaltung sorgte das "Wiener Flötenquartett" mit Werken von Hoffmeister, Haydn und Mozart.

Hans Kelsen - Leben und Werk
Hans Kelsen wurde am 11. Oktober 1881 als Sohn eines jüdischen Lampenhändlers in Prag geboren und übersiedelte 1884 mit seiner Familie nach Wien. Der hoch begabte Schüler maturierte am Akademischen Gymnasium und studierte bei dem berühmten Verfassungsrechtler Eduard Bernatzik. Nach Studien in Heidelberg habilitierte sich Hans Kelsen 1911 mit dem Werk "Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatz" und unterrichtete an der Exportakademie (heute Wirtschaftsuniversität) sowie an der Universität Wien, wo er 1919 seinem Lehrer Bernatzik als Ordinarius für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Wien nachfolgte.

Praktische Erfahrungen mit dem Verfassungsrecht sammelte Hans Kelsen bereits im Ersten Weltkrieg. Der Jurist beriet die Regierung Kaiser Karls bei deren vorbereitenden Arbeiten für eine Nachkriegs-Verfassung und erlebte so die verzweifelten Versuche, die Monarchie zu retten, aus nächster Nähe mit.

Politisch stand Hans Kelsen Karl Renner nahe, der den angesehenen Verfassungsjuristen in den Tagen der Republikgründung als Konsulent für Verfassungsfragen in die neu geschaffene Staatskanzlei berief. Kelsen unterstützte die Ausarbeitung jener Gesetze, mit denen die Provisorische Nationalversammlung dem neuen Staat nach und nach eine verfassungsrechtliche Basis gab, das parlamentarische System und die republikanische Staatsform begründete.

Die Hauptaufgabe Kelsens war damals die Ausarbeitung einer definitiven Verfassungsurkunde. Seit Mai 1919 hatte Kelsen im Auftrag Karl Renners an Entwürfen für einen parlamentarisch-demokratisch verfassten Bundesstaat gearbeitet. Seine Systematik lag den Vorschlägen zugrunde, mit denen die Parteien am 8. Juli 1920 in die Ausschussverhandlungen über die Verfassungsurkunde gingen. Als Experte des Unteraussschusses wirkte Hans Kelsen im Sommer 1920 maßgeblich an dem Verfassungstext mit, den die Konstituierende Nationalversammlung am 1. Oktober 1920 als Bundes-Verfassungsgesetz einstimmig beschloss.

Die klare und nüchterne Sprache des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes wurde oft gewürdigt; sie entspricht der "Reinen Rechtslehre" Kelsens, in deren Zentrum eine "von aller politischen Ideologie gereinigte" Auffassung des Rechts steht. Rechtsnormen beschreiben laut Kelsen ein "Sollen", das im Unterschied zu religiösen und ethischen Normen generell durchsetzbar ist. Den Staat definierte Kelsen dementsprechend als eine Rechtsordnung.

Als Begründer und führender Kopf der "Wiener Rechtstheoretische Schule" erlangte Kelsens in den zwanziger Jahren weltweit Ansehen. Schüler wie Adolf Merkl, Leonidas Pitamic und Alfred Verdross waren aus seinem Seminar hervorgegangen. Die "Brünner Schule der Rechtstheorie" von Frantisek Weyr baute ausdrücklich auf Kelsens Theorie auf. Adolf Merkls Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung basiert auf Kelsens Gedanken und wurde von ihm selbst in sein Lehrgebäude übernommen.

Hans Kelsen Werke verfasste auch Werke, die zu Klassikern der Politikwissenschaft wurden, "Vom Wesen und Wert der Demokratie" etwa. Im Mittelpunkt seines politischen Denkens standen für Hans Kelsen die Demokratie und ihr Herzstück - der Parlamentarismus. Für diesen schuf Kelsen die klassische Definition: "Bildung des maßgeblichen staatlichen Willens durch ein vom Volke auf Grund des allgemeinen und gleichen Wahlrechts, also demokratisch, gewähltes Kollegialorgan nach dem Mehrheitsprinzip".

Gegenüber antiparlamentarischen Konzepten von links ("Rätedemokratie") und rechts ("berufsständische Ordnung") unterstrich Kelsen in den zwanziger Jahren die "respektablen Leistungen" der Parlamente bei der Überwindung der absoluten Monarchien, bei der vollen Emanzipation des Bürgertums und bei der politischen Gleichberechtigung der Arbeiterschaft. Der Wege aus der Krise des Parlamentarismus, den Kelsen damals aufzeigte, die Weiterentwicklung des "Redeparlaments" zum modernen "Arbeitsparlament" wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg wirksam, dazu gehören neue Formen direkter Teilnahme der Bürger an der Gesetzgebung und der Ausbau der Fachausschüsse.

Neben seiner Arbeit als akademischer Lehrer und Schriftsteller war Hans Kelsen in den zwanziger Jahren auch als Verfassungsrichter tätig, an jenem von ihm konzipierten Verfassungsgerichtshof, der weltweit zum Vorbild moderner Verfassungsgerichtsbarkeit wurde. In dieser Funktion erlebte Kelsen Anfeindungen aus dem katholischen Lager, weil er im Eherecht eine laizistische Haltung vertrat. Tief gekränkt verließ er 1930 Österreich. Er wandte sich zunächst nach Deutschland und entdeckte als Professor an der Universität Köln das Völkerrecht als ein neues Arbeitsgebiet. Nach der NS-Machtergreifung 1933 arbeitete Kelsen bis 1936 am "Institut Universitaire des Haute Etudes Internationale" in Genf und danach bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs an der Universität seiner Geburtsstadt Prag.

In der amerikanischen Emigration setzte der 59-jährige Kelsen seine Laufbahn als akademischer Lehrer und Forscher zunächst an der "New School for Social Research", dann an der "Harvard Law School" und schließlich als Professor für Politikwissenschaft an der University of California in Berkeley fort. Das Völkerrecht und die Analyse des angelsächsischen Rechtsystems waren dort seine wissenschaftlichen Themen. Kelsen war aber auch ein gefragter Politikberater, konzipierte eine Verwaltungsordnung für die von den Alliierten befreiten deutschen Gebiete und wirkte an der Vorbereitung der Nürnberger Prozesse gegen deutsche Kriegsverbrecher mit. 1950 verfasste Hans Kelsen einen bis heute maßgeblichen Kommentar zur Satzung und zum Recht der Vereinten Nationen.

Bis zuletzt rastlos tätig, starb Hans Kelsen am 19. April 1973 in Berkeley. Sein Nachlass enthielt ein umfassendes Werk zum Hauptthema seines wissenschaftlichen Lebenswerks, eine "Allgemeine Theorie der Normen". Zum 90. Geburtstag des international angesehenen und vielfach ausgezeichneten Juristen im Jahr 1971 stiftete die Republik Österreich das "Hans Kelsen-Institut" in Wien, das sich der wissenschaftlichen Pflege der "Reinen Rechtslehre" widmet.
 
zurück