Erklärung des Bundeskanzlers zur 62. Wiederkehr des Tages der Wiedererrichtung der Republik Österreich am 27. April 1945  

erstellt am
27. 04. 07


Sehr geehrte Damen und Herren,
Die jüngere Generation der Nachgeborenen, wir alle, die wir das Glück haben, vom Krieg und seinen unmittelbaren Folgen verschont geblieben zu sein, können uns heute kaum mehr vorstellen, unter welchen Bedingungen die Wiedererrichtung der Republik am 27.April 1945 vonstatten ging.

An diesem Tag unterzeichneten die Gründungsväter des modernen Österreich, Karl Renner, Adolf Schärf, Leopold Kunschak und Johann Koplenig die Unabhängigkeitserklärung. Noch am selben Tag wurde unter dem Vorsitz Karl Renners eine provisorische Staatsregierung gegründet, die Regierungserklärung verlesen und somit sehr unspektakulär und leise der Startschuss für eine einzigartige Erfolgsgeschichte gegeben, deren Ausmaß an jenem historischen Tag im Frühling 1945 bei weitem noch nicht absehbar war.

Wenn wir zurückblicken, wenn wir in den Geschichtsbüchern blättern und die historischen Quellen analysieren, stellt sich uns ein zugleich erschütterndes und berührendes Bild der Anfangstage der Zweiten Republik dar: Erschütternd, weil das verheerende Ausmaß der Zerstörung des Krieges sichtbar wird und berührend, weil wir schon in diesen ersten Anfangstagen, als in weiten Teilen Österreichs noch gekämpft wird, die demokratischen Kräfte im viel zitierten "Geist der Lagerstraße" versammelt sehen. Diesem Geist, also der Einsicht ehemals verfeindeter politischer Gegner, dass Kooperation und Verständigung über programmatische Grenzen hinweg unabdingbare Voraussetzungen für ein gedeihliches Zusammenleben aller in Frieden und Freiheit sind, ist die rasche Staatsgründung und in weiterer Folge auch die Erreichung der vollen staatlichen Souveränität Österreichs zu verdanken.

Das war am 27. April 1945 bei weitem nicht absehbar. Noch war der Krieg nicht beendet, noch war die Bevölkerung der nicht befreiten Teile des Landes dem ungehinderten Terror des Naziregimes ausgesetzt. In Mariazell wurden am 28. April neun junge Soldaten, die ihre Waffen niederlegen wollten, wegen "Feigheit vor dem Feind" standrechtlich erschossen. Vom Standgericht Weyer wurden 53 Soldaten, die bewusst oder unabsichtlich den Kontakt zu ihrer Truppe verloren hatten, zum Tode verurteilt und hingerichtet. In Prein an der Rax wurden siebzehn Frauen und alte Männer von der SS erschossen, weil sie auf ihren Häusern weiße Fahnen gehisst hatten. Im Chaos der letzten Kriegstage glich Österreich einem unübersichtlichen Heerlager: Hunderttausende Zivilisten und Soldaten waren entweder auf der Flucht oder auf der Suche nach ihren Angehörigen. In den Ruinen der Städte und auf dem verwüsteten Land herrschten Hunger, Verzweiflung und Not. Mehr als zehn Millionen Menschen hatten in Europa ihre Heimat verloren, und für viele von ihnen war der Albtraum der Vertreibung, Verfolgung und Gefangenschaft auch nach der Kapitulation des Nazi-Regimes noch nicht beendet. In Österreich haben mehr als 350.000 Menschen, darunter 65.000 jüdische KZ-Opfer, die Befreiung vom Hitler-Faschismus nicht mehr erlebt. Wir werden ihr Andenken immer in Ehren halten, ebenso wie jenes all der tapferen Menschen, die im Kampf gegen die Diktatur ihr Leben lassen mussten.

Wir sollten aber auch nie vergessen, was uns in jahrelanger Auseinandersetzung mit unserer Geschichte und im oft schmerzhaften Dialog mit der Generation unserer Eltern und Großeltern klar geworden ist: Dieses Österreich, auf das wir alle mit Recht so stolz sind, war nicht nur ein Land der Opfer, sondern auch ein Land der Täter. Viele von ihnen haben, ob verblendet und fehlgeleitet von einer menschenverachtenden Ideologie, ob gutgläubig oder schlicht blind für die Zeichen der Menschenverachtung, die einige wenige schon früher erkannt hatten, am Verbrechen des Holocaust mitgewirkt. Mit dieser historischen Tatsache müssen wir leben. Sie ist unleugbar und das Erbe dieser unseligen Zeit. Es ist dem damaligen Bundeskanzler Franz Vranitzky zu danken, die Mitverantwortung an den Verbrechen des Nationalsozialismus benannt und außer Diskussion gestellt zu haben. Der Österreichische Nationalfonds und Versöhnungsfonds für die Entschädigungszahlungen an Zwangsarbeiter, die in den letzten Jahren eingerichtet wurden, haben dazu beigetragen, die Folgen des begangenen Unrechtes, das zu unser aller Leidwesen nicht ungeschehen gemacht werden kann, anzuerkennen. Ich betone ausdrücklich, dass ich meinem Vorgänger im Amt, Dr. Wolfgang Schüssel, für seine diesbezüglichen Bemühungen Dank und Anerkennung auszusprechen möchte. Die Bundesregierung wird weiter alles tun, um die noch offenen Fragen im Rahmen ihrer Verantwortung zu lösen.



Meine sehr geehrte Damen und Herren!

Die Gründerväter der Zweiten Republik haben uns neben manch anderer vor allem eine Lehre erteilt, die wir auch heute, nach 62 Jahren des Friedens und Wohlstandes, nie aus den Augen verlieren sollten: Die Erfolgsgeschichte dieses Landes war nur möglich, weil sie auf einem dauerhaften politischen und sozialen Konsens beruhte. Es war das Verdienst der Männer um Karl Renner, nicht nur rasch für stabile und unumkehrbare demokratische Verhältnisse zu sorgen, sondern mit der Etablierung der Sozialpartnerschaft ein System zu schaffen, das die Beteiligung aller Österreicherinnen und Österreicher am wachsenden Wohlstand sicherstellte. Auf dieser Grundlage konnte der ökonomische Wiederaufbau erfolgreich beginnen und Österreich zu einer Heimat für alle hier lebenden Menschen werden. Schon Leopold Figl hatte gänzlich undogmatisch die Zielsetzung umrissen, als er 1945 davon sprach, "ein freies und soziales, ein neues und revolutionäres, ein von Grund auf umgestaltetes Österreich" zu schaffen. Keinesfalls wolle man, so Figl wörtlich, "eine Wiederholung von 1933 noch von 1938". Mit dieser Abgrenzung war auch klar, dass man von Beginn an die sozialen Spannungen zu vermeiden gewillt war, die Jahrzehnte zuvor die Erste Republik zerstört und den Boden für alles Spätere aufbereitet hatten.

Das sollte nun anders werden, und es wurde anders. Österreich wurde in Zusammenarbeit aller politisch relevanten Kräfte zu einem Land, das allen seinen Söhnen und Töchtern die gleichen Chancen und Möglichkeiten des Aufstieges gab. Es wurde zu einem Land, in dem sich nicht mehr nur die Reichen und Wohlhabenden, sondern auch die einfachen Arbeitnehmer, Bauern und Handwerker aufgehoben und zu Hause fühlen konnten. Seine Erfolgsgeschichte, diese Verwandlung vom armseligen Aschenputtel zur strahlenden, umworbenen Schönheit inmitten Europas wurde auch deshalb möglich, weil wirklich alle Österreicherinnen und Österreicher daran teilhaben konnten - am Wiederaufbau ebenso wie am Aufschwung und Wohlstand. Der Glanz, der heute noch von der Ära Bruno Kreiskys auf uns herüberstrahlt, ist nicht nur einer der Nostalgie und der Erinnerungsverklärung. Wir sehen von unserem gesicherten Standpunkt aus historischer Distanz auch in einer Lage Schwächen und Fehler, die gemacht wurden, zu sehen und einzugestehen. Aber mehr noch kann meine Generation auf die Erfahrung gelebter Solidarität verweisen, auf das Gefühl der sozialen Fairness, das diese Jahre geprägt hat, auf ein Miteinander, das Österreich so unverwechselbar und erfolgreich gemacht hat.

Natürlich hat sich seither vieles verändert. Der globale Wettbewerb hat sich verschärft und mit ihm die Auseinandersetzung zwischen den Gesellschaften, die im Reichtum leben, aber um dessen Bestand fürchten und den Gesellschaften, die in Armut leben und deren Bürger immer nachdrücklicher eine weltweite, gerechtere Umverteilung der Ressourcen fordern. Darüber hinaus sehen wir uns mit Herausforderungen konfrontiert, die noch vor wenigen Jahrzehnten vernachlässigbar schienen, wie zum Beispiel die internationale Migration. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir diese Herausforderungen nur dann bestehen können, wenn wir uns auf die Werte besinnen, die uns die Begründer der Zweiten Republik vermittelt haben:

Nur im Dialog, der auch die Standpunkte des politischen Gegners respektiert, ist eine gedeihliche Entwicklung zum Wohle aller Österreicherinnen und Österreicher möglich. Kompromisse einzugehen und umzusetzen heißt nicht, aus zwei Teilmengen nur das Trennende auszusondern, sondern eine möglichst große Schnittmenge an Gemeinsamkeiten zu finden. Der Konsens im größeren österreichischen Sinn, wie er in den überwiegenden Phasen der Zweiten Republik geherrscht hat, bestand nie nur im wechselseitigen Abtausch von Partikularinteressen. Er war stets auf das Gemeinwohl aller Menschen ausgerichtet, die in diesem und für dieses Land arbeiten, er war stets um sozialen Ausgleich bemüht, um jene Art von Fairness, auf deren Wiederherstellung alle wesentlichen Punkte unseres Regierungsübereinkommens ausgerichtet sind. Ich bin der Meinung, dass wir uns mit der darin beschlossenen Konzentration auf soziale Kernbereiche, auf die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Verbesserung der Bildung und Ausbildung für unsere Jugend, die Sicherung der Pensionen und Alterversorgung für unsere älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger sowie auf eine effizientere Ausgestaltung unseres Gesundheitswesens auf einen Weg begeben haben, für den wir uns vor den Verfassern der Unabhängigkeitserklärung vom 27.April 1945 nicht schämen müssen.

Im Gedenken an die Leistung der Aufbaugeneration, in der Freude über das für unser gemeinsames Österreich, sollten wir aber nicht vergessen, welchen von außerhalb wirkenden Kräften wir es verdanken, mittlerweile seit 62 Jahren in Frieden und Wohlstand leben zu dürfen. Mit dem militärischen Sieg der Alliierten über Nazideutschland war ja erst der erste Teil der Befriedung dieses unruhigen europäischen Kontinents geschafft. Der großzügige Marshallplan setzte die wirtschaftliche Entwicklung in Gang, die Demokratie und Freiheit absicherte. Überwunden und endgültig besiegt wurden die finsteren Geister des Nationalismus aber erst durch die Idee eines Vereinten Europa und das Konzept der Europäischen Integration, die ihre Wurzeln in der Entschlossenheit der Nachkriegsgeneration hatten, nie wieder einen Krieg auf diesem Kontinent zuzulassen. Zwischen dem Ende des Ersten und dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges lagen lediglich 21 Jahre. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, also seit 62 Jahren, wurde zwischen den Mitgliedsstaaten der EU keine kriegerische Auseinandersetzung mehr geführt. Das ist eine Zeitspanne, die uns vielleicht kurz scheinen mag: In der größeren Geschichte dieses notorisch unruhigen, von Kriegen, Bürgerkriegen und Revolutionen geschüttelten Kontinents wird man aber eine derartige Zeitspanne des friedlichen Zusammenlebens nicht leicht finden. Die Vereinigung Europas, die Geburt der EU, hat die großen europäischen Gegenspieler vergangener Jahrhunderte endlich zu Nachbarn gemacht, deren Zusammenleben und Zusammenarbeit längst zu einem globalen Beispiel mustergültigen Interessenausgleichs geworden ist. Gerade für uns, die wir in unserer eigenen Geschichte so oft erleben mussten, wie Kriege das Leben und Werk ganzer Generationen zerstört haben, ist es daher eine Verpflichtung, die Friedenszone der EU weiter auszudehnen. Bei aller berechtigten Kritik an vielen Aspekten der EU-Politik muss eines festgehalten werden und außer Zweifel stehen: Die Europäische Union ist ein Friedensprojekt, das wir unterstützen und nach Kräften fördern werden. Die Einbindung unserer Nachbarländer in Südosteuropa in die Europäische Union ist der sicherste Garant dafür, dass wir Auseinadersetzungen wie im ehemaligen Jugoslawien nicht mehr erleben müssen. Das allein rechtfertigt die Idee der europäischen Integration, an deren Ende ein gemeinsames Europa stehen wird, in dem sich seine Mitglieder der Untaten, die sie einander über Jahrhunderte hinweg zugefügt haben, nur noch wie eines fernen, bösen Traumes erinnern werden.



Meine sehr geehrten Damen und Herren !

Wir neigen manchmal in der Eile des politischen Tagesgeschäftes dazu, das Pathos unserer Vorgänger zu belächeln. Aber eben ihnen gilt in dieser Stunde unser Dank: Sie haben das neue Österreich geschaffen. Wir wollen ihr Werk gemeinsam fortführen und dafür sorgen, dass es lebenswerte Heimat für alle unsere Bürgerinnen und Bürger bleibt.

Quelle: Bundespressedienst
 
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