Volksherrschaft am Hradschin   

erstellt am
11. 02. 08

Eine durch die Jahrhunderte umkämpfte parlamentarische Tradition
Wien (pk) – Österreich und die Schweiz sind die Gastgeberländer der Fußballeuropa- meisterschaft 2008, der EURO 2008. Die Parlamentskorrespondenz nimmt dieses sportliche Großereignis zum Anlass, die Parlamente der Teilnehmerländer (und in der Folge anderer europäischer Länder) vorzustellen. Die Beiträge erscheinen jeweils am Montag. Heute: Tschechien – Gruppengegner der Schweiz, der Türkei und Portugals.

Tschechien – vormals Böhmen, Mähren und Schlesien – hat im Gegensatz zu Österreich eine Jahrhunderte lange parlamentarische Tradition, welche die Tschechen freilich wie ihre Unabhängigkeit immer wieder verteidigen bzw. neu erkämpfen mussten.

Von den Ständen zum Parlament der Tschechoslowakei
Die Ursprünge des Königreiches Böhmen liegen in der slawischen Landnahme des Gebietes der heutigen Tschechischen Republik im Frühmittelalter. Bereits im 9. Jahrhundert begründete Borivoj, der erste Premyslide, ein böhmisches Staatswesen, in welchem die Rolle des Adels durch dynastische Konflikte ab dem 11. Jahrhundert mehr und mehr aufgewertet wurde. 1193 setzte eine Adelsversammlung (mithin also ein allererstes Protoparlament) König Vaclav II. ab und proklamierte an seiner Statt Ottokar I., woraus in den folgenden Jahrhunderten das Recht der Stände abgeleitet wurde, bei der Kür des jeweiligen Königs ein entscheidendes Wörtchen mitzureden.

Zum Tragen kam diese Ansicht bereits im Jahre 1310, als sich die böhmischen Stände nach dem Aussterben der Premysliden für das Geschlecht der Luxemburger und gegen die Habsburger als Landesherrscher aussprachen. Und die Habsburger scheiterten auch im zweiten Versuch, sich des Thrones in Prager Hradschin zu bemächtigen. Die Stände anerkannten 1457 nämlich den Anspruch Friedrichs III. auf die Königswürde nicht und erwählten stattdessen einen der Ihren, Jiri Podebrady (Georg Podiebrad), der denn auch bis 1471 über Böhmen und Mähren regieren sollte. Nach seinem Tod ergriff Matthias Corvinus seine Chance und schwang sich zum Herrscher über die Länder der Wenzelskrone auf, ließ dabei aber formell seinen Verbündeten Vladislav Jagiello von den Ständen zum König wählen. Dessen Sohn Ludwig ging 1522 ein Bündnis mit den Habsburgern ein, durch welches diese im dritten Versuch, die böhmische Krone zu erringen, 1526 endlich erfolgreich sein sollten.

Doch auch nachdem die Habsburger mit Ferdinand I., Maximilian II., Rudolf II. und Matthias schon vier böhmische Könige gestellt hatten, war ihre Position in der Prager Burg immer noch nicht gesichert. Ferdinand II. musste bei seiner Kür zum böhmischen König im Jahre 1617 bange Stunden hitziger Verhandlungen überstehen und beachtliche Zugeständnisse an die Stände machen, um schließlich an den Thron zu gelangen. Doch als er seine Versprechungen nicht einhielt, erhoben sich die Stände gegen ihn und läuteten damit den Dreißigjährigen Krieg ein. Sie beriefen sich auf ihr altes Recht und wählten anstelle des Habsburgers Friedrich von der Pfalz zum böhmischen König, der jedoch im November 1620 von den österreichischen Truppen militärisch besiegt wurde. Im März 1621 hielt Ferdinand II. ein schreckliches Strafgericht in Prag ab, ließ die meisten Abgeordneten hinrichten oder inhaftieren und schaffte die böhmische Ständemacht ab.

Erst im Zuge der Französischen Revolution und des Zeitalters der nationalen Wiedergeburt regte sich in Böhmen und Mähren wieder ein allgemeines Bedürfnis nach einer ansprechenden Vertretung. Zwar gab es im Kaisertum Österreich einen böhmischen und einen mährischen Landtag, doch dominierten dort entgegen der realen Mehrheitsverhältnisse in der Bevölkerung die deutschsprachigen Adeligen und Großindustriellen.

Vom Ring zum Hradschin
Mit der Einrichtung des Reichsrates fanden auch die tschechischen Parteien die Möglichkeit, sich um Parlamentsmandate zu bewerben, und mit der Ausdehnung des Wahlrechts stieg auch der Anteil der tschechischen Mandatare in Wien. Bei den letzten Reichsratswahlen 1911 gelangten 130 Mandate zur Vergabe, von denen 45 auf deutschnationale Parteien entfielen und 23 an die Sozialdemokraten gingen. Die übrigen 62 Abgeordneten gehörten tschechischen Parteien an, so namentlich den Alt- und den Jungtschechen, den Volkssozialisten, den Agrariern, den Fortschrittlichen und den so genannten Realisten des Thomas Garrigue Masaryk. Und es waren jene 62 Mandatare, die sich im Gefolge des Auswirkungen des Ersten Weltkriegs im Juli 1918 zu einem Nationalausschuss zusammentaten, um dergestalt den Nukleus eines eigenen tschechischen Parlaments zu bilden.

Die erste Republik (1918-1939)
Am 28. Oktober 1918 erklärte die provisorische Nationalversammlung formell die Unabhängigkeit der Tschechoslowakei von Österreich-Ungarn. An der Spitze des neuen Staates standen praktisch ausnahmslos Männer, die ihre politischen Erfahrungen im Wiener Haus am Ring gemacht hatten. Die Erfahrungen des "cisleithanischen Parlamentarismus" werteten die Tschechen bei der Arbeit zu ihrer Verfassung aus, die 1920 vom Parlament verabschiedet wurde. Die Abgeordnetenkammer der Tschechoslowakischen Republik zeichnete sich dabei durch eine beinahe unüberschaubare Vielzahl an Fraktionen aus, gab es doch nach den Wahlen 1925 nicht weniger als 16 Parteien im Hause, von denen sechs Parteien die diversen nationalen Minderheiten repräsentierten. Generell war das tschechische Parlament nach einem Zweikammersystem organisiert, neben der Abgeordnetenkammer gab es im Gefolge der Verfassung von 1920 auch einen Senat.

Trotz der vielen Parteien und der oft harten politischen Auseinandersetzungen erwies sich die Tschechoslowakei als ein Hort des Friedens und des Fortschritts in Mitteleuropa, denn während ab Mitte/Ende der 20er Jahre ein Staat nach dem anderen diversen Diktaturen zum Opfer fiel (Österreich, Jugoslawien, Polen, Ungarn, die baltischen Staaten, Italien, Deutschland), blieb die Tschechoslowakei eine funktionierende Demokratie mit einem verhältnismäßig hohen Lebensstandard und hoher politischer Kultur. Ab 1937 jedoch wurde der Staat mehr und mehr das Ziel nationalsozialistischer Aggression, und im Oktober 1938 musste die Tschechoslowakei die Sudetengebiete an Deutschland abtreten. Trotz dieses Kotaus wurde die Tschechoslowakei im März 1939 von Nazi-Deutschland zerschlagen und okkupiert. Es begannen die finstersten Jahre in der Geschichte der Tschechen und Slowaken.

Die CSSR (1945-1990)
Nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus etablierte sich die Tschechoslowakei im Mai 1945 von neuem. Die ersten Parlamentswahlen konnten die Kommunisten mit knapp 43 Prozent (gegenüber 30 Prozent für die Sozialisten & Sozialdemokraten und 25 Prozent für die Konservativen) klar für sich entscheiden, und nach der Vereinigung mit den Sozialdemokraten regierten die Kommunisten ab Februar 1948 das Land alleine. Sie riefen eine "Volksdemokratie" aus (die seit 1960 offiziell Tschechoslowakische Sozialistische Republik, CSSR, hieß) und pflegten einen Parlamentarismus, der sich grundlegend von den Spielregeln der westlichen Demokratie unterschied. Ein Versuch, dieses starre System in westlichem Sinne zu demokratisieren, wurde im August 1968 durch eine sowjetische Militärintervention gestoppt. Bis zum November 1989 blieb die CSSR damit unverändert in den sowjetischen Machtblock eingebunden, und der Ruf nach freien Wahlen und einem unabhängigen Parlament galt lange Jahre als "konterrevolutionär" und "staatsgefährdend". Schließlich aber verloren die real-sozialistischen Staaten die Systemauseinandersetzung mit dem Westen, und so fanden im Frühjahr 1990 erstmals seit 1948 wieder pluralistische Wahlen statt.
   

Das tschechische Parlament heute
Wiewohl die CSSR noch in den Umbruchtagen in CSFR (Tschechoslowakische Föderative Republik) umbenannt worden war, zeigte sich rasch, dass Tschechen und Slowaken eher getrennte Wege gehen wollten. Bei den zweiten Parlamentswahlen 1992 gewannen denn auch jene Parteien, die sich für eine staatliche Trennung aussprachen, und so wurde die Tschechische Republik mit 1. Januar 1993 ein eigener Staat. Dieser gab sich eine neue Verfassung, die neben dem Abgeordnetenhaus auch wieder einen Senat als zweite Kammer des Parlaments vorsah.

Im Mai 1996 fanden erstmals in der Geschichte Parlamentswahlen für die Tschechische Republik statt. Fünf Parteien zogen in die Abgeordnetenkammer ein: Demokratische Bürgerpartei, Christliche Volkspartei und Republikaner stellten mit 117 von 200 Mandaten die Regierungsmehrheit, Sozialdemokraten und Kommunisten bildeten die Opposition. Zwei Jahre später werden die Sozialdemokraten stärkste Partei und bilden mit der ODS eine Koalition, die bis 2002 halten wird. Danach regieren die Sozialdemokraten mit der Freiheitsunion, ehe bei den Wahlen 2006 wieder die ODS die Nase vorne hat und mit den beiden anderen bürgerlichen Parteien, den Grünen und der CVP, eine Koalition bildet, zu der Sozialdemokraten und Kommunisten in Opposition stehen.

Die Abgeordnetenkammer und ihr Sitz
Die Abgeordnetenkammer (www.psp.cz) befindet sich im Palais Thun, das 1720 im Auftrag der berühmten österreichischen Adelsfamilie in barockem Stil erbaut wurde. Dieses befindet sich im historischen Zentrum der Stadt Prag und war von Anfang an als Repräsentativbau gedacht. 1779 wurde das Palais zu einem Theater umgebaut, das allerdings 1794 ausbrannte. Sieben Jahre später verkauften die Thuns das Gebäude an die böhmischen Stände, die dort ihren Sitzungssaal, ihre Kanzlei und ihr Archiv unterbrachten. 1918 diskutierten die böhmischen und mährischen Mandatare in diesem Haus, wie der tschechische Staat ins Leben zu rufen sei.

Im Gefolge der Ära Bach schien es den Ständen erforderlich, die Räumlichkeiten den Erfordernissen der Zeit anzupassen. Aus dieser Zeit stammt der heutige Sitzungssaal mit 241 Sitzplätzen und einer Galerie für knapp 150 Personen. 1895 wurde die Haustechnik modifiziert, und es gab erstmals elektrischen Strom. 1903 wurde die neben dem Palais befindliche Thunstraße durch eine Überbauung überwunden und so eine Verbindung zum Palais Sternberg geschaffen, das heute gleichfalls den Zwecken der Abgeordnetenkammer dient.

Mit der Ausrufung des neuen tschechischen Staates änderten sich der Charakter und die Funktion der Adelspalais an der Kleinseite, und viele wurden Sitz von Institutionen des neuen Staates oder diplomatischer Vertretungen. Das Palais Thun wurde so Heimstätte des Senats, während die Abgeordnetenkammer ins Rudolfinum übersiedelte.

In sozialistischer Zeit wurde das Palais zum Sitz der Tschechischen Volkskammer, ehe es 1993 wieder die tschechische Abgeordnetenkammer in die Räume einzog. Noch in sozialistischer Zeit war das Gebäude umfassend renoviert worden, markant ist nach wie vor die Fassade auf der Seite des Haupteingangs, an der die "Heilige Wenzelskrone" angebracht ist, die gleichsam – wie die Eintretenden – von Apoll und Athene behütet wird.

Der Senat
Der Senat (www.senat.cz) besteht aus 81 Mitgliedern, die ad personam jeweils für sechs Jahre direkt vom Volk gewählt werden, wobei die erste Wahl für den Senat 1996 stattfand. Alle zwei Jahre finden in 27 Wahlkreisen Neuwahlen statt, sodass sich die zweite Kammer stets um ein Drittel erneuert. Erreicht bei den Wahlen keiner der Kandidaten die erforderliche Mehrheit, so kommt es zu einer Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten, welche im ersten Wahlgang die meisten Stimmen auf sich vereinigen konnten. Nach den Wahlen von 2006 stellt die bürgerliche ODS im Senat mit 41 Sitzen die absolute Mehrheit. Die Sozialdemokraten vereinigen 13 Senatoren in ihren Reihen, die Christdemokraten elf, die Freiheitsunion sieben und die Kommunisten drei. Sechs Senatoren gehören keiner Fraktion an.

Ähnlich den Möglichkeiten des österreichischen Bundesrates stehen dem Senat mehrere Varianten zur Verfügung, mit Gesetzesbeschlüssen der Abgeordnetenkammer umzugehen. Pflichtet er ihnen bei, so ist das Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen. Dies ist auch der Fall, wenn der Senat den jeweiligen Entwurf nicht binnen 30 Tagen in Verhandlung nimmt. Weist er einen Beschluss zurück, so kann sich die Abgeordnetenkammer mit einem Beharrungsbeschluss über dieses Veto hinwegsetzen. Retourniert der Senat die Vorlage jedoch mit Anmerkungen, so kann die Kammer entweder einen Beharrungsbeschluss fassen, womit der ursprüngliche Text in Kraft treten würde, oder aber die adaptierte Version akzeptieren.

Das Wallenstein Palais

Kaum eine parlamentarische Kammer in Europa hat eine derart noble Herberge wie der tschechische Senat, residiert dieser doch im ehemaligen Palais des Albrecht von Wallenstein, welches dieser in den Jahren 1623 bis 1630 nach Plänen des Comer Architekten und Baumeisters Andrea Spezza (1580-1628) errichten ließ. Um diese prachtvolle Residenz erbauen zu können, wurden 20 Häuser, drei Gärten und mehrere Mauern niedergerissen, neben dem Palast beeindrucken vor allem der Garten und die Reitschule. Führende Künstler der Epoche sorgten für eine entsprechende Ausgestaltung des fürstlichen Bauwerks.

Dient die Haupthalle des Palastes heute für diverse Veranstaltungen, so ist der so genannte Rittersaal Ort für Empfänge und kleinere Treffen. In beiden Räumen lässt sich die Gestalt des Erbauers keineswegs übersehen. Hängt im Rittersaal ein übergroßes Reiterporträt Wallensteins, so blickt er als Gott Mars neben dem als Jupiter abgebildeten Kaiser auf die Haupthalle herab. Sein ehemaliges Arbeitszimmer dient heute als Ausschusslokal, das Plenum ist hingegen in einem Seitenflügel untergebracht. Zusätzlich zum Wallenstein Palais steht dem Senat auch noch das Kolowrat Palais und das Palais Fürstenberg zur Verfügung, in dem sich die Verwaltung des Senats befindet. Beide Gebäude wurden 2006 für den Senat in Verwendung genommen.
 
zurück