Gedenkveranstaltung zum März 1938 im Parlament   

erstellt am
12. 03. 08

Ansprachen von Prammer, Kritzinger, Molterer, Gusenbauer und Fischer
Wien (pk) - Am 12. März 1938 marschierten auf Befehl Adolf Hitlers deutsche Truppen in Österreich ein, ohne dass sie auf Widerstand gestoßen wären. Während viele Menschen die nationalsozialistische Machtübernahme bejubelten, wurden schon in den ersten Tagen zahlreiche Österreicherinnen und Österreicher verhaftet und in Konzentrationslager eingeliefert. Für sieben lange Jahre hörte Österreich, in dem die Demokratie schon seit Jahren abgeschafft war, auf zu existieren. Tausende Menschen verloren durch den von Adolf Hitler geplant vom Zaun gebrochenen Krieg und durch die politische und rassistische Verfolgung ihr Leben.

Jahrzehntelang sah auch das offizielle Österreich das Land als "Hitlers erstes Opfer". Erst ab den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts setzte sich nach und nach die Erkenntnis durch, dass viele Österreicher als Mitläufer und Täter schuldig geworden waren. Als Ergebnis dieses Reflexionsprozesses kann die Einsicht gelten, dass es keine "kollektive Schuld" gebe, "kollektive Scham" aber angebracht sei – vor allem aber die Erkenntnis, im Sinne einer "demokratiepolitischen Immunisierung" alles dafür zu tun, dass Ähnliches sich nie mehr ereigne. Im Parlament wurde am 12.03. bei einer Gedenkveranstaltung im historischen Sitzungssaal der Ereignisse vor 70 Jahren gedacht.

Prammer: Es ist nicht möglich, einen "Schlussstrich" zu ziehen

Nationalratspräsidentin Barbara Prammer erinnerte eingangs ihrer Rede daran, dass es heute genau 70 Jahre her sei, dass deutsche Truppen in Österreich einmarschierten und die Nationalsozialisten die Macht übernommen haben. Der 12. März 1938 sei mit vielen Bildern, Eindrücken und Fragen verbunden, meinte sie, wobei zunächst und vor allem Bilder des Jubels zu sehen gewesen seien. Aber auch Bilder der Demütigung seien in Erinnerung.

Prammer machte darauf aufmerksam, dass "die Gewalttätigkeiten, die öffentlichen Schauspiele der Erniedrigung von Jüdinnen und Juden" in Österreich bereits begonnen hatten, bevor die deutsche Wehrmacht die Grenzen überschritten hatte. Die Verfolgung der Juden in Österreich - und vor allem in Wien - sei weit über das im nationalsozialistischen Deutschland bisher Gekannte hinausgegangen, skizzierte sie. Die Geschehnisse hätten gezeigt, wozu Menschen fähig seien. Prammer zufolge sicherte "insbesondere die österreichische Ausprägung des Antisemitismus dem nationalsozialistischen Regime Zustimmung und Loyalität vieler".

Die Frage, wie das alles geschehen konnte und warum so viele mitgemacht haben, sei, so Prammer, erst von nachkommenden Generationen gestellt worden. In den Jahren nach 1945 hätten sich die Österreicherinnen und Österreicher, auch ehemalige NSDAP-Parteigänger, in erster Linie selbst als Opfer wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und persönlicher Zwänge gesehen, betonte sie. Auch internationale Entwicklungen hätten "die Fiktion" begünstigt, wonach Österreich ausschließlich Opfer gewesen sei. Damit sei die Vermeidung der Auseinandersetzung mit dem Verbrechen des Nationalsozialismus und die Abwehr von Schuld erleichtert worden. Von jenen Überlebenden, die nach Österreich zurückkehrten, seien nur wenige freundlich empfangen worden, konstatierte Prammer, schließlich hätten die Zurückgekehrten das Selbstbild Österreichs gestört, Opfer einer ausländischen Tyrannei zu sein.

Prammer machte allerdings geltend, dass die wissenschaftliche und persönliche Auseinandersetzung mit dem "Anschluss" in den vergangenen Jahrzehnten an Tiefe und Breite gewonnen habe. Heute werde in Zeitungen, Fernsehen und Büchern anders über die Ereignisse gesprochen, als etwa noch 1988, unterstrich sie. Mit der Einrichtung des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus 1995 sei auch offiziell und unumkehrbar institutionalisiert worden, was über lange Jahre verdrängt und verschwiegen worden war: die Mitverantwortung von Österreicherinnen und Österreichern für die Verbrechen während der NS-Herrschaft.

Dezidiert wandte sich Prammer dagegen, einen "Schlussstrich" unter die Geschehnisse der Vergangenheit zu ziehen. Sie gab zu bedenken, dass die Auswirkungen der Jahre 1938 bis 1945 vielfach bis in die Gegenwart reichten. "Nur wer autoritäre Entwicklungen rechtzeitig erkennt, wird den Gefahren der Gegenwart und Zukunft auch mit demokratisch legitimierten Mitteln entgegentreten", zitierte Prammer den Historiker Oliver Rathkolb.

Rathkolb habe auch davor gewarnt, dass grundsätzliche Parteien- und Politikerverdrossenheit vor dem Hintergrund sozioökonomischer Krisen rasch in eine breite Demokratieverdrossenheit umschlagen könnten, führte Prammer aus. Darüber sollte man sich im Klaren sein, wenn man das Parlament als nutzlos verschreie und Parlamentarierinnen und Parlamentarier als untätig verunglimpfe. Daran solle man aber auch denken, wenn die Möglichkeit zu Debatten und zum Gespräch beschnitten, wenn dem Ringen um Konsens und Widerspruch kein Raum gegeben werden solle.

An die Politikerinnen und Politiker appellierte Prammer, das Gedenkjahr zu nutzen, um sich ihrer Rolle und Verantwortung im Hinblick auf den Umgang mit Geschichte bewusst zu werden. Die Befassung mit Zeitgeschichte dürfe nicht allein an Expertinnen und Experten ausgelagert werden, mahnte sie. Vielmehr müsse die Chance genützt werden, um für Verständnis, Bewahrung und Weiterentwicklung von Demokratie, Grundrechten und sozialer Gerechtigkeit zu werben, "auf dass sich Entwicklungen wie die hin zum März 1938 nie mehr wiederholen".

Kritzinger: Engagement für die Stärkung der Demokratie

Die Zahl jener Menschen, die die Ereignisse der Märztage 1938 bewusst miterlebt, mitgemacht und mitgelitten haben, sei sehr klein geworden", sagte Bundesratspräsident Helmut Kritzinger in seiner Ansprache. "Ich persönlich bin heute einer der ganz wenigen noch aktiven Politiker, die ob ihres Alters eine Verbindung zu dieser Generation aufweisen. Im März 1938 war ich ein Kind von nicht einmal zehn Jahren im Südtiroler Sarntal. Ich erinnere mich an die Berichte über den Jubel in Wien und über die Freude vieler darüber in Südtirol. Aber mir ist auch die Hartnäckigkeit und die Kritik gegenüber Faschismus und Nationalsozialismus bei den Gruppen um mutige Dorfpfarrer und Mesner und den Andreas-Hofer-Bund in Erinnerung."

Wenn er die Bilder von damals heute sehe, frage er sich oft: Was haben die Menschen damals gewusst? "Ich erinnere mich daran, wie man sich bei uns im Dorf geärgert hat, als Hitler mit dem Zug zu Mussolini gefahren ist und auf der Strecke durch Südtirol die Fenster des Waggons verhangen blieben, damit er sich nicht zeigen musste. Keiner hat daran gedacht, dass auch die Südtirolerinnen und Südtiroler verraten und betrogen worden sind."

Was der 12. März 1938 für Österreich bedeute, das habe er erst später erfahren, und erst in Österreich sei ihm bewusst geworden, was diese Ereignisse gerade auch für seine Generation bedeutet und was sie bewirkt haben.

Heute sei die Vergangenheit für viele Kinder und Jugendliche, aber auch für Erwachsene, in Österreich zu einem anderen Land geworden – weil die Ereignisse so weit zurück lägen und weil vieles an Orten passiert sei, die ihnen fremd sind. Daher nutzte der BR-Präsident die Gelegenheit, auch all jenen LehrerInnen, gerade in den Bundesländern, seine Anerkennung für das auszusprechen, was sie in der Vermittlung von Geschichte und im Bemühen um Erinnerung und Gedenken leisten. Ihr Engagement mache wieder deutlich, dass der Anschluss nicht nur in Wien stattgefunden hat und die Nazis nicht nur gleichsam von draußen kamen. Das Engagement der LehrerInnen schaffe sehr konkrete Bezugspunkte in der Lebenswelt und Umgebung vieler Menschen und wecke das Interesse an Geschichte und Politik.

Die Grundlage für jedes geschichtliche Verständnis und überhaupt für jedes Verstehen unseres Landes liege in der Sprache, sagte der Bundesratspräsident weiter. "Wir Südtiroler Kinder haben damals nur Deutsch zu Hause gelernt", erinnerte sich Kritzinger, "und mit dem ersten Schultag war dann Italienisch unsere neue Lern- und Arbeitssprache. Natürlich wurde das akzeptiert, man muss die Sprache des Staates, in dem man lebt, lernen", betonte er. Nicht mehr und nicht weniger dürfe man auch von allen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die hier geboren sind oder freiwillig nach Österreich gekommen sind, erwarten.

Die Generation, der er angehöre, war damals im Alter der Kinder und Jugendlichen von heute. Man habe noch die Chance, mit ihnen über die Erlebnisse zu reden, nicht nur aus dem Blickwinkel historischer Erfahrung, sondern auch aus der Erinnerung der Kinder und Jugendlichen von damals: "Wie viele haben sich von der Begeisterung mitreißen lassen, wie viele haben gar nicht weiter darüber nachgedacht, wie viele haben aber auch Zivilcourage und Wagemut besessen!" In diesem Zusammenhang verwies Kritzinger auf die zahlreichen Beispiele von Aktionen Jugendlicher in Innsbruck 1938, die Hakenkreuzwimpel abgerissen und tausende Flugblätter verteilt haben, um zu zeigen, dass es Andersgesinnte gibt, sowie auf Prof. Franz Mair vom Staatsgymnasium Innsbruck, der von 1938 bis 1945 auch Jugendliche im Widerstand organisiert hat, und auf Christoph Probst, der vor 65 Jahren als Mitglied der Weißen Rose hingerichtet wurde.

"Lernen aus der Geschichte kann bedeuten, unser Einfühlungsvermögen zu schärfen und aufmerksam für die Entwicklungen der Zeit zu werden. Es kann heißen, den Menschen, mit denen wir zu tun haben, Respekt und Solidarität entgegenzubringen, sich einzumischen und nicht wegzusehen, was rund um uns passiert", sagte Kritzinger. "Wir können aus unserer Lebenserfahrung und an den konkreten Orten, an denen wir leben, Anknüpfungspunkte für ein solches Lernen schaffen, um damit das Wissen über die Geschehnisse im Nationalsozialismus zu stärken. Erinnerung darf kein Lippenbekenntnis sein, die Befassung mit den Ereignissen von damals muss auch konkrete Auswirkungen haben – in der Wertschätzung dafür, dass wir in einer Demokratie leben können, in unserem tatkräftigen Engagement für die Verwirklichung und Stärkung der Demokratie, und in unserem Bekenntnis zu Österreich in einem vereinigten Europa", meinte der Präsident des Bundesrats abschließend.

Molterer: Lehre aus 1938 ist unbedingte Pflicht zum Miteinander

Vizekanzler Wilhelm Molterer nannte den 12. März 1938 einen der düstersten und schmerzhaftesten Tage in der Geschichte Österreichs. Er erinnerte, dass bereits seit der Machtergreifung Hitlers Österreich bedroht und eingeschüchtert gewesen sei, der mangelnde Glaube an Österreich und seine Lebensfähigkeit, die innere Zerrissenheit, Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Depression, Terror von innen und außen seien die Vorboten des Anschlusses gewesen. Jubelnde Menschen habe man gehört und über die Wochenschauen in alle Welt getragen. Diejenigen, die nicht gejubelt und Beklemmung und Furcht verspürt haben, habe man aber nicht gehört.

Molterer sprach von der Verwicklung zahlreicher Österreicher in die Verbrechen des Nationalsozialismus und in die Shoah und meinte, zahllose Bürger hätten als Schergen der NS-Vernichtungsmaschinerie maßgebliche Schuld auf sich geladen, viele, ja zu viele, hätten das NS-Regime aktiv unterstützt oder zumindest gebilligt. Österreich habe lange gebraucht, um sich einzugestehen, dass es nicht bloß Opfer war, sondern dass auch viele seiner Bürger Täter waren. Molterer rief aber auch jene über 2000 ÖsterreicherInnen in Erinnerung, die aus Patriotismus für Österreich eingetreten und gegen das Unrecht aufgetreten sind und deshalb als Widerstandkämpfer hingerichtet wurden.

Heute sei die politische Verurteilung des Nationalsozialismus längst gesprochen. Das "niemals wieder" sei ein Grundkonsens, den es durch das "niemals vergessen" abzusichern gelte.

Als zentrale Lehre aus dem Jahr 1938 sah Molterer die unbedingte Pflicht zum Miteinander, wobei er meinte, diese Pflicht sei eine Antwort aus der Erfahrung der NS-Zeit. Mahnende Worte fand Molterer dabei für die gegenwärtige Politik. Es gehe darum, wie er betonte, im politischen Wettbewerb den Platz des Anderen zu achten und die eigenen Lösungsmodelle auch mit den Augen des Anderen zu sehen. Demokratie lebe vom Wettbewerb der Ideen, niemand habe einen dauerhaften Vorsprung bei der Suche nach der Wahrheit. Mit großer Sorge sah Molterer, dass heute dem Gegeneinander mehr Raum als dem Miteinander gewidmet werde. Der Verlust des gegenseitigen Grundvertrauens sei aber eine Gefahr für die demokratische Gesellschaft, zumal die Demokratie auf dem Grundvertrauen aufbaue. Es sei gerade dieses Grundvertrauen gewesen, das es ermöglicht habe, Österreich nach 1945 wieder aufzubauen, erinnerte er.

Als Antithese zum Jahr 1938 betrachtete Molterer auch das europäische Einigungsprojekt der EU. Wenn wir heute Frieden, Freiheit, Demokratie und Wohlstand als eine Selbstverständlichkeit ansehen, dann sei dies die große Leistung des europäischen Einigungsprozesses. Molterer bekannte sich in diesem Sinn mit Nachdruck zum Reformvertrag von Lissabon, in dem er eine Versicherung gegen Krieg und Gewalt sah. Das Gemeinsame vor das Trennende zu stellen und als selbstbewusstes Österreich an einem starken geeinten Europa im Geiste von Frieden und Gleichberechtigung weiterzubauen sei die Alternative zu 1938, zu Nationalismus, Intoleranz und Diktatur, die zum Untergang Österreichs geführt hatten.
   

Gusenbauer: Die soziale Balance muss gewahrt werden
Der 12. März 1938 sei ein tiefer und unendlich schmerzvoller Einschnitt für unser Land gewesen, begann Bundeskanzler Alfred Gusenbauer seine Rede. Mit diesem Datum endete die Souveränität eines Staates, der aus den Trümmern der Monarchie entstanden war, gleichzeitig bedeutete dieses Datum den Auftakt zu abgrundtiefen Tragödien, zu einem beispiellosen Völkermord und zu einem Weltkrieg, in dessen Gefolge weite Teile Europas, der Sowjetunion und Japans in Schutt und Asche lagen.

1938 bedeutete den Schlusspunkt einer verhängnisvollen Entwicklung seit 1918. Dem Ende der Monarchie, das viele verunsichert habe, dem mangelnden Glauben an eine Zukunft des neuen Staates, der fatalen ökonomischen Situation und der inneren Zerrissenheit des Landes folgten die Ausschaltung der Demokratie 1933 und der Juliputsch der Nazis 1934. Mit der wachsenden Bedrohung, die von Nazideutschland ausging, ging eine wachsende Begeisterung für Deutschland einher, das die wirtschaftlichen Probleme scheinbar gelöst hatte. Dazu kam die Unfähigkeit der Politik, dieser Gefahr Paroli zu bieten.

Besonders verhängnisvoll sei die tiefe innere Spaltung gewesen, die von der Politik nicht überwunden werden konnte, hielt Gusenbauer fest. Nur wenige Staaten hatten sich autoritären und faschistischen Ideologien entziehen können, und zwar jene, die sich stets um sozialen Ausgleich bemüht hatten. Deshalb war die Begründung der Sozialpartnerschaft auch eine der wichtigsten Lehren aus der Geschichte der Ersten Republik, so der Kanzler, der bei dieser Gelegenheit auch an den demokratischen Frühling erinnerte, der in den letzten Wochen vor dem "Anschluss" angebrochen war, als Gewerkschafter aller Couleurs um die Verteidigung Österreichs bemüht gewesen waren. Auch auf dieser Erfahrung habe die Zweite Republik aufbauen können.

Es sei Schwerstarbeit gewesen, das Land nach dem Krieg wieder aufzubauen. Erst später allerdings wurden jene Schäden wirkungsmächtig, die der Seele zugefügt worden waren. Es blieb daher der Generation der Nachgeborenen vorbehalten, die entsprechenden Fragen zu stellen, und wenn es auch niemandem zustehe, ein moralisches Pauschalurteil zu fällen, müsse man sich doch den dunklen Seiten der Geschichte stellen. Fraglos sei Österreich Opfer einer Expansionspolitik geworden, doch dürfe dabei nicht übersehen werden, dass viele dieses Opfer leichten Herzens erbrachten. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus sei die eine Seite gewesen, die vielen Mittäter die andere, die dunkle Seite der Geschichte, und es wäre falsch, diese individuelle Schuld auf das Kollektiv des Volkes abzuwälzen, meinte Gusenbauer.

Keine Wiedergutmachung könne das Leid der Opfer schmälern, jede Restitution könne daher nur eine kleine, unbedeutende Geste sein, eine geringfügige Anerkennung dessen, was den Opfern angetan wurde. Dennoch müsse man versuchen, aus der Geschichte zu lernen. Zu sehen, wohin die Verrohung der Sprache führen könne, sollte für heute eine Lehre sein. Es brauche den Mut zur nuancierten Darstellung und das Wissen um die sozialen Beweggründe, die für die Entwicklungen der Ersten Republik maßgeblich mitverantwortlich waren. Daher müsse man Rahmenbedingungen schaffen, die allen Bewohnern des Landes würdige Lebensbedingungen ermöglichten. Die soziale Balance dürfe nicht ins Schwanken geraten. Man müsse dafür Sorge tragen, dass den Kindern und Kindeskindern nicht solche Prüfungen wie den Eltern und Großeltern auferlegt werden. Man müsse sehen, wohin fehlende Toleranz und Dialogbereitschaft führten und dürfe daher den Versuch, aus der Geschichte zu lernen, niemals aufgeben.

Fischer: Brücken bauen ist eine wichtige Aufgabe der Politik

Bundespräsident Heinz Fischer schilderte zunächst die dramatischen Ereignisse, die sich genau vor 70 Jahren in Österreich abgespielt haben. Am 10. März 1938 hatten Hitler und Göring den österreichischen Bundeskanzler Kurt Schuschnigg ultimativ zum Rücktritt und zur Absage der für den 13. März anberaumten Volksabstimmung über den Fortbestand eines selbständigen, freien Österreich aufgefordert. Am 11. März 1938 erhöhte Göring den Druck auf Bundespräsident Miklas und Bundeskanzler Schuschnigg und verschärfte die Drohungen, bis Bundeskanzler Schuschnigg um 19.50 Uhr im Rundfunk seine Rücktritt mit den historischen Worten bekannt gab: "Wir weichen der Gewalt" und "Gott schütze Österreich". Sein Nachfolger, der Nationalsozialist Seyss-Inquart konnte Hitler durch Eingehen auf Forderungen nicht von dessen Plänen abbringen.

"Heute vor 70 Jahren marschierte die deutsche Wehrmacht in Österreich ein, am 13. März 1938 war der Anschluss de facto vollzogen - Österreich versank in einem Meer von Hakenkreuzfahnen und hörte auf zu existieren", sagte der Bundespräsident. Am 15. März habe Hitler dann mit sich überschlagender Stimme am Heldenplatz "vor der Geschichte" den Eintritt seiner Heimat Österreich in das Deutsche Reich verkündet.

An dieser Stelle stellte der Bundespräsident eine oft diskutierte Frage: "Hat vor 70 Jahren der Überfall eines zu allem entschlossenen, gewaltbereiten Diktators auf ein wehrloses Volk stattgefunden, das somit zum ersten Opfer Hitlers wurde? Oder hat im März 1938 der letzte und von vielen bejubelte Schritt einer monatelangen, ja jahrelangen Entwicklung stattgefunden? Einer Entwicklung, die nach der Machtübernahme von Adolf Hitler in Deutschland im Jänner 1933 und aufgrund der Verhältnisse in Österreich zu einer verhängnisvollen Stärkung der nationalsozialistischen Bewegung, zu einer wachsenden Bewunderung für den Führer geführt hat?

Die Antwort Heinz Fischers lautete: "Sowohl als auch".

Österreich sei das Opfer der militärischen Aggression eines wortbrüchigen Diktators. Diese Aggression sei dem Diktator aber wesentlich erleichtert und überhaupt erst ermöglicht worden, weil es in Österreich eine beträchtliche Anzahl fanatischer Nationalsozialisten und noch viel mehr Sympathisanten gegeben habe, die nicht nur den einmarschierenden deutschen Truppen zujubelten und Hitler am 15. März am übervollen Heldenplatz einen begeisterten Empfang bereiteten, sondern in ganz Österreich Hakenkreuz-Fahnen hissten.

Freilich habe es auch die vielen anderen gegeben, erinnerte Fischer, die wussten, dass sie zu Opfern dieser Entwicklung werden würden, die den Krieg voraussahen, die zu fliehen versuchten, die verhaftet oder in den Selbstmord getrieben wurden - man habe sie damals aber nicht gesehen und viele von ihnen hätten nicht überlebt.

Der "Anschluss" sei nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel gekommen, sondern hatte weit zurückreichende Wurzeln, analysierte der Bundespräsident weiter und nannte die unversöhnlichen Gegensätze zwischen den Parteien der Ersten Republik, Not und Arbeitslosigkeit, die Zerstörung von Demokratie und Parlamentarismus, aber auch den mangelnden Glauben an eine gute Zukunft Österreichs.

Daher plädierte Heinz Fischer dafür, sich mit den Ereignissen vor 1938 offen und ehrlich auseinanderzusetzen und sie im bereits beträchtlichen zeitlichen Abstand ohne Selbstgerechtigkeit und im Bemühen um größte Objektivität aufzuarbeiten. Dabei gehe es auch um eine sachliche Diskussion über bis heute umstrittene Persönlichkeiten und um das Bauen von Brücken zwischen unterschiedlichen Auffassungen über heikle Phasen der Geschichte.

Im Lichte der historischen Erfahrungen sah Bundespräsident Fischer das "Brückenbauen" als eine der wichtigsten Aufgaben der Politik an. Die wichtigste Eigenschaft der erfolgreichen politischen "Brückenbauer" der Zweiten Republik sei das Wissen gewesen, "was man seinem Gegenüber, seinem Partner und auch seinem Gegner zumuten kann". Dies gelte auch für Gegenwart und Zukunft, betonte das Staatsoberhaupt.

Der Bundespräsident setzte sich auch mit dem nicht zu übersehenden aktuellen politischen Unbehagen auseinander und warnte davor, aus diesem Unbehagen ein Unbehagen gegenüber der Demokratie schlechthin werden zu lassen. Um dies zu verhindern rief Fischer zu sachlicher Arbeit und überzeugender Leistung auf. "Wir sollten weniger Energie für Konflikte und Konfrontation verwenden, weil wir damit mehr Energie für konstruktive Arbeit zur Verfügung haben".

Der Blick in die Vergangenheit zeige, dass die Diktaturen letzten Endes gescheitert seien. Die Demokratie lebe, sagte Fischer, und zwar in allen Ländern Europas. "Daraus dürfen wir Zuversicht schöpfen für die Zukunft Österreichs und für die Zukunft Europas. Machen wir uns gemeinsam an die Arbeit", schloss Bundespräsident Heinz Fischer.

Nationalratspräsidentin Barbara Prammer begrüßte eingangs der Gedenkveranstaltung neben den Abgeordneten zum Nationalrat und den Mitgliedern des Bundesrats zahlreiche Persönlichkeiten des staatlichen und des öffentlichen Lebens sowie Vertreterinnen und Vertreter der Lagergemeinschaften und des Widerstands. Die Veranstaltung, die im Programm ORF 2 live übertragen wurde, wurde von einem Streichertrio des Klangforums Wien mit Werken von Erich Itor Kahn und Roman Haubenstock-Ramati musikalisch umrahmt. Abgeschlossen wurde die Gedenkveranstaltung mit der österreichischen Bundeshymne.
 
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