Generation 40+ im Motorrad-Flow   

erstellt am
14. 05. 08

Tiefenbefragung zeigt: Motorrad-Wiedereinsteiger suchen den Ausbruch aus der Routine und die geregelte Rebellion gegen das Establishment
Wien (kfv) - Bei Tätigkeiten, in denen wir völlig aufgehen, tritt oft ein Zustand auf, der vom Psychologen Mihaly Csikszentmihalyi als „Flow“ bezeichnet wurde. In diesem Zustand sind Fühlen, Wollen und Denken in vollkommener Übereinstimmung. Der „Flow“ tritt sehr oft bei Extremsportarten oder extrem anspruchsvollen Berufsgruppen wie Chirurgen auf – aber auch beim Motorradfahren. Der ansonsten wünschenswerte Flowzustand kann im Straßenverkehr durchaus unerwünschte Begleiterscheinungen haben, weil er die guten Vorsätze zur defensiven Fahrweise außer Kraft setzt. „Dieses besondere Erlebnis ist vielleicht mit ein Grund, dass die Zahl der Motorradunfälle seit Jahren auf einem hohen Niveau stagniert“, sagt Dr. Othmar Thann, Direktor des Kuratoriums für Verkehrssicherheit (KfV). „Es ist genau dieses Gefühl des Gleitens und des „Sich vergessens“, das für viele im fortgeschrittenen Alter ausschlaggebend für den Neu- oder Wiedereinstieg ins Motorradfahren ist.“ 3.472 Unfälle mit Leichtmotorrädern und Motorrädern gab es im Jahr 2007. In beinahe jeden zweiten Unfall war ein Motorradlenker im Alter zwischen 35 und 49 Jahren verwickelt. Vor 20 Jahren lagen die Unfallspitzen bei den 20- bis 24-Jährigen, in den letzten 20 Jahren hat sich das Motorrad aber eindeutig vom bloßen Fortbewegungsmittel zum Freizeitinstrument entwickelt. Das Kuratorium für Verkehrssicherheit ging nun in 30 Tiefeninterviews mit Neu- und Wiedereinsteigern der Generation 40+ der Frage nach, was die „Faszination Motorrad“ ausmacht, welche Typen von Motorradfahrern sich unterscheiden lassen und wie diese Generation zu den Gefahren des Bikens steht.

Faszination Motorrad
Die Beweggründe fürs Motorradfahren sind fast ausschließlich emotionaler Natur und hier sticht vor allem das Flow-Erlebnis hervor. In erster Linie wollen Wiedereinsteiger das Gleiten spüren und mit dem Motorrad Eins werden. An zweiter Stelle rangiert das Abschalten und Entspannen, gefolgt vom Kurvenerlebnis und dem Gefühl der Beschleunigung. Motorradfahren wird auch als ein gewisser „Coolness-Faktor“ gesehen, der die Bewunderung der anderen einbringt. Die Beherrschung von Risiko und Gefahr sowie der berühmte „Adrenalin-Kick“ rangieren auf den hinteren Plätzen.

Genießer und Sportive – Wiedereinstieg als Rebellion gegen das eigene Establishment
„Mein Schwager ist mit einem Motorrad aufgetaucht, das hat mich gereizt“, „Habe damals wegen der Kinder aufgehört“, „Jetzt gebe ich das Geld für mich aus!“ – dieser Antworten auf die Frage nach Motiven für den Neu- oder Wiedereinstieg ins Motorradfahren zeigen, dass es in erster Linie um den Ausbruch aus der Routine geht. Deutlich wird das am Selbst- und Fremdbild, das durch die projektive Frage „Wie sehen mich andere Verkehrsteilnehmer als Motorradfahrer“ ermittelt wurde. Motorradfahrer charakterisieren sich selbst als verantwortungsbewusst und kontrolliert – wenn auch da und dort mal zu schnell unterwegs. Dieselben Motorradfahrer sind aber der Meinung, dass sie von anderen als Raser, Rowdies und verrückte Spinner gesehen werden, also mit Attributen versehen werden, die das Bild des „Outlaw“ bestätigen. „Das verrät uns, dass sich Motorrad-Wiedereinsteiger gerne als jemanden sehen, der gegen – sein eigentlich eigenes – Establishment rebelliert“, sagt DI Klaus Robatsch, Regionalleiter des KfV. „Anders als bei wirklichen Motorrad-Outlaws wie etwa den Hells Angels, ist es natürlich ein Brechen von Regeln in geregelten Bahnen. Man lotet zum Beispiel die Grenzen der gesetzlich vorgeschriebenen Tempolimits aus.“ Es geht den meisten also lediglich darum, in einem gewissen Punkt anders zu sein als die anderen. Das verbindet auch die beiden Wiedereinsteigertypen „Genießer“ und „Sportive“. Genießer fahren hauptsächlich Chopper und Reisemotorräder unter 100 PS. Geschwindigkeit und Beschleunigung sind für diese Gruppe sekundär, im Mittelpunkt steht das Cruisen. Sie fahren ungern durch enge Kurven, ganz im Gegensatz zum sportiven Typ. Diese bevorzugen Straßenmotorräder oder Enduros, mit denen sich eine hohe Beschleunigung erreichen lässt, da die Geschwindigkeit für diese Gruppe eine wesentlich größere Rolle spielt. Kurvige Strecken, in die man sich richtig hineinlegen kann, sind besonders gefragt. Die Vertreter der Sportiven legen allerdings mehr Wert auf Schutzkleidung und tragen diese im Gegensatz zu den Genießern auch auf kurzen Strecken. Sportive sind aber auch von Fahrsicherheitstrainings nur mäßig begeistert und verzichten auf „Hilfsmittel“ wie ABS.

Guter vs. schlechter Motorradfahrer und Gefahrenbewusstsein
Ein guter Motorradfahrer qualifiziert sich aus Sicht der Wiedereinsteiger durch eine umsichtige und vorausschauende Fahrweise. Er fährt flott, ohne zu rasen, geht kein Risiko ein und kennt seine Grenzen, die er im besten Fall bereits bei einem Fahrtechnikkurs erlebt hat. Schlechte Motorradfahrer werden in Anfänger und Rowdys unterteilt. Anfänger nehmen nicht zügig am Verkehrsfluss teil und legen eine übervorsichtige und unsichere Fahrweise an den Tag. Rowdys, die auch für das selbst wahrgenommene schlechte Image der Motorradfahrer verantwortlich gemacht werden, gehen unnötige Risiken ein, überholen an unübersichtlichen Stellen und wollen sich und anderen laufend beweisen, wie gut sie sind.

So gut wie jeder befragte Motorradfahrer hatte bereits brenzlige Situationen erlebt. Nur bei den wenigsten führte das allerdings auch zu einer Einstellungsänderung. „Wir haben die Befragten mit den Zahlen der Unfallstatistik konfrontiert und dabei festgestellt, dass die meisten das Risiko von sich wegschieben. Entweder auf den verunfallten Motorradlenker selbst, auf andere Verkehrsteilnehmer oder auf allgemeine Einflussfaktoren“, sagt Robatsch. Als wesentlichste Gefahrenquellen im Verhalten von Motorradfahrern werden überhöhte Geschwindigkeit, Selbstüberschätzung und die Fehleinschätzung von Situationen gesehen. „Subjektiv gesehen wird der Stadtverkehr von Wiedereinsteigern als am gefährlichsten empfunden, weil die Situation dort unübersichtlicher ist und sie auf viele andere, nicht immer wohlgesinnte Verkehrsteilnehmer treffen. Objektiv statistisch gesehen passieren im Ortsgebiet und im Freiland aber in etwa gleich viele Unfälle – allerdings starben 2007 im Ortsgebiet 16 Motorradfahrer und im Freiland insgesamt 80“, gibt Robatsch zu bedenken.

Maßnahmen für mehr Sicherheit
Maßnahmen sollten an allen drei Hebeln – Infrastruktur, Fahrzeug und Mensch – ansetzen. Gefährliche Motorradstrecken sollten mittels Road Safety Inspection überprüft und gegebenenfalls durch Verbesserungsmaßnahmen entschärft werden, um zu „Forgiving Roadsides“ zu werden. Aus fahrzeugtechnischer Sicht sollte auf gesamteuropäischer Ebene ABS forciert werden. Angesichts der manchmal jahrzehntelangen Fahrpausen plädiert das KfV bei Wiedereinsteigern für eine Mehrphasenausbildung, die deutlich macht, dass sich die Anforderungen des Motorradfahrens wesentlich von jenen des Autofahrens unterscheiden. „Es geht nicht darum, das Erlebnis beim Motorradfahren zu schmälern, sondern das Erlebnis in so sichere Bahnen wie möglich zu lenken“, schließt Thann.
 
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