Debatte über die Finanzkrise und die Ergebnisse des G20-Gipfels   

erstellt am
19. 11. 08

Brüssel (europarl) - Das Europäische Parlament hat am 18.11. über die Finanzkrise und die Ergebnisse des G20-Gipfels von Washington debattiert. Die große Mehrheit der Abgeordneten plädierte für eine bessere Regulierung und Kontrolle der internationalen Finanzmärkte sowie für klare Regeln, etwa für Rating-Agenturen oder Hedgefonds. Nötig seien auch Maßnahmen, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln.

Jean-Pierre JOUYET, französischer Staatssekretär für Europäische Angelegenheiten, sprach von einer der schlimmsten Finanzkrisen seit 1929. Die Wirtschaft verlangsame sich in "spektakulärem Ausmaß". Die Entschlossenheit Europas habe sich auch auf dem G20-Gipfel in Washington gezeigt. Europa habe die Initiative ergriffen. "Wir können zufrieden sein mit unserem Auftreten". Transparenz und Verantwortung müssten im Mittelpunkt des internationalen Finanzsystems stehen. Es gehe u.a. um die Registrierung von Rating-Agenturen, die Überwachung der Finanztätigkeit aller Wirtschaftsakteure, um Hedgefonds sowie um die Bekämpfung von Steuerparadiesen. Europa müsse mit einer Stimme sprechen, um Ergebnisse zu zeitigen.

Auch in der Frage des Wirtschaftswachstums müsse es eine engere Koordinierung zwischen den EU-Mitgliedstaaten geben. Zudem müssten weltweit alle makroökonomischen Instrumente eingesetzt werden, um eine Rezession zu vermeiden. Nationale Konjunkturpläne und EU-Initiativen müssten aufeinander abgestimmt werden. Die Flexibilität der Regeln über Staatsbeihilfen müsse genutzt werden, um bestimmte Wirtschaftszweige zu unterstützen. Der Automobilindustrie müsse geholfen werden; ebenso kleinen und mittleren Unternehmen.

Kommissionspräsident José Manuel BARROSO erklärte, die politische Initiative auf dem G20-Gipfel sei von Europa ausgegangen: "Darauf können wir stolz sein, die EU war der Herausforderung gewachsen." Man würde mehr Zeit benötigen, um einen historischen Wandel sehen zu können, aber dieser Gipfel sei ein "Meilenstein eines neuen Kapitels im internationalen Finanzsystem" gewesen. Europa werde sich nach wie vor auf das Prinzip einer freien Marktwirtschaft stützen, aber mit einer europäischen Doktrin, denn die EU habe sich dem Wert der sozialen Marktwirtschaft verschrieben.

Die Verwirklichung anderer Ziele, wie der Kampf gegen den Klimawandel, gegen Armut und Krankheit dürfe man jedoch im Rahmen der Krise nicht aus den Augen verlieren. Nun gelte es, "rasch und konkret ein neues politisches Kapitel aufzuschlagen", so Barroso.

Die EU müsse auch weiterhin mit einer Stimme sprechen. "Wenn die EU in Washington die treibende Kraft war, dann weil sie geschlossen aufgetreten ist." Kein Staat könne aus dieser Krise alleine heraus kommen. Nach dem Gipfel in Washington hätten alle verstanden, dass im Rahmen der Globalisierung auch eine Interdependenz akzeptiert werden müsse, "um negative Dominoeffekte zu vermeiden."

Barroso betonte, die Krise werde auch "aufrütteln" und biete Raum, um eine neue Gesellschaft aufzubauen. Er habe in Washington "eine Öffnung und Aufgeschlossenheit" erkennen können. Die Krise habe ein Umdenken bewirkt, es gebe nun die Bereitschaft, die Werte der EU überall hin zu tragen. Deshalb sei nun auch der Zeitpunkt für Europa gekommen, "dem Gang der Ereignisse seinen Stempel aufzudrücken."

Joseph DAUL (EVP-ED, Frankreich) erklärte, die Finanz- und Wirtschaftskrise sei nicht das Ergebnis des Kapitalismus, sondern der existierenden Regeln. Die Mitte-Rechts sei nie für ein System ohne Regeln und Schiedsrichter gewesen, sondern für ein europäisches Modell. Vor allem Arbeitnehmer, Sparer und KMU müssten bei der Lösung berücksichtigt werden. Die EU müsse an einem "freien, loyalen und transparenten Modell" festhalten.

Er begrüßte, dass Europa gemeinsam und kohärent auf der Weltbühne aufgetreten sei und sich dadurch Respekt verschafft habe. Die G-20 Sitzung sei ein wichtiges symbolisches und historisches Ereignis gewesen, dass jedoch auch Ergebnisse gebracht habe.

Man müsse sich die Frage stellen, warum die EU die Krise nicht vorhergesehen habe. Jetzt jedoch müsse gehandelt werden. Ein geschlossenes Europa habe gezeigt, dass es fähig sei, auf die Krise zu reagieren und sie zu überwinden. Ein geeintes Europa sei ein starkes Europa, schloss der Abgeordnete.

"Wir bewegen uns auf eine multipolare Welt zu, in der die EU eine zentrale Rolle spielen muss und kann, wenn sie einig ist", so Martin SCHULZ (SPD). Wenn wir glaubwürdig sein wollen, müsse schnell gehandelt werden, z.B. bezüglich Banken, Hedgefonds, private Equity oder Managergehältern. Nötig seien mehr Kontrolle sowie mehr internationale Kooperation zur Durchsetzung dieser Kontrolle im internationalen Finanzsystem. Ziel der EU müsse es sein, eigene Regeln zu definieren und diese dann in der G20 durchzusetzen.

Schulz kritisierte die "kühlen, kalten Renditeziele" wie sie etwa von der Deutschen Bank ausgerufen worden waren. Es gebe eine "Wahrnehmungslücke" zwischen den Akteuren der Finanzwelt und den kleinen, normalen Leuten und deren Blick auf die Realität. "Wir haben eine Verantwortung für die kleinen Leute, mit deren Geld nun Banken und Fonds gerettet werden". Unerlässlich seien Investitionen in die Realwirtschaft: "Wir müssen die Ökonomie vor dem Abschmieren retten".

Laut Graham WATSON (ALDE, Großbritannien) habe das Jahr 2007 Gewinne gebracht, aber 2008 habe gezeigt, dass freie Märkte ihre Grenzen haben. Er begrüßte den Erfolg der G20-Sitzung: man habe erkannt, dass die Rettung auf gemeinsamen Maßnahmen basieren müsse. Momentan werde noch nach Schuldigen gesucht. Die Warnglocken hätten schon Anfang des Jahres geklingelt, aber man solle die Zeit nicht damit verschwenden, nach Schuldigen zu suchen, sondern sie nutzen, um nach einem Ausweg zu suchen. Die Staats- und Regierungschefs schienen nun zu glauben, dass lediglich Wirtschaftswachstum notwendig sei, um aus der Krise zu kommen; eine Rezession sollte aber die Zeit sein, um Bilanz zu ziehen. Watson bedauerte, dass in den G20-Schlussfolgerungen der Klimawandel nur am Rande auftauche, denn es gebe keinen Widerspruch zwischen der Überwindung der Finanzkrise und der Bekämpfung des Klimawandels. Abschließend betonte er, dass wir nicht damit fortfahren könnten "business as usual" zu machen.

Brian CROWLEY (UEN, Irland) sagte, er sei der festen Überzeugung, dass die Kommission aktiv dazu beigetragen habe, den Kollaps zu vermeiden. Die EU, die USA und China müssten mehr kooperieren, damit gemeinsame Regeln und Standards geschaffen würden, um die internationalen Finanzmärkte in Zukunft besser zu beaufsichtigen. Der Gipfel in Washington habe auch dazu geführt, dass China und Indien mit an den Tisch gezogen wurden. Man dürfe den Menschen nicht das Gefühl geben, dass durch die Krise nun Forschung und Kreativität gebremst würden, sondern es müssten Garantien ausgesprochen werden, unter anderem für Sicherheit, Gesundheit und Bildung.

"Die EU hat zu spät ein europäisches Regelungssystem aufgebaut. Hierfür zahlen wir nun den Preis", so Monica FRASSONI (Grüne/EFA, Italien). Sie griff Kommissionspräsident Barroso an, der nicht auf die Kritik an der Deregulierung eingegangen sei. Auch die Entwicklungs- und Menschrechtspolitik der Kommission kritisierte sie. Nötig sei ein "neuer grüner Deal". Es gehe um langfristige grüne Investitionen, um die Wirtschaft umweltfreundlich umzugestalten. Es müsse in Energieeffizienz und in nachhaltige Technologien investiert werden.

Roberto MUSACCHIO (KVEL/NGL, Italien) betonte, man müsse "raus aus dem Kapitalismus, hin zu einer Wirtschaft, die sozial und ökologisch bedacht ist." Es werde darüber gesprochen, dass Spekulationen eingeschränkt werden müssen, aber "man denkt nicht daran, diese Spekulationen einzudämmen, den Stabilitätspakt zu ändern und man stellt auch nicht die Frage, was dieser Krise zugrunde legt." Ein Problem sei, dass Arbeit in den letzten Jahrzehnten systematisch entwertet worden sei, man zähle nicht mehr auf die Arbeitnehmer und dies habe "Ungerechtigkeit und Leiden hervorgerufen und die Krise verursacht".

Hanne DAHL (IND/DEM, Dänemark) forderte die Kommission auf, ihre Vorschläge genauer zu erläutern. Wenn sie beispielsweise sage, dass ein fairerer Sektor für die Zukunft entstehe, stehe dann dahinter, dass der öffentliche Sektor Finanzspritzen geben solle? Was meine die Kommission, wenn sie von der "Agenda der Strukturreform" spreche? Solle alles auf die Arbeitnehmer abgewälzt werden? Die Löhne dürften nicht nur als Kostenfaktor behandelt werden.

Die G20 sollten nicht den Protektionismus pflegen, denn "wer Freiheit gegen Sicherheit tauscht, wird beides verlieren", so Jana BOBOŠÍKOVÁ (fraktionslos, Tschechische Republik). Es müsse dafür gesorgt werden, dass die Freiheit gewahrt werde, und das Geld, das investiert wurde, dürfe "nicht einfach dem Bürger geklaut werden". Es sei "unmoralisch, wenn die Bürger nun für diesen Schaden aufkommen müssten".


Weitere deutschsprachige RednerInnen:
Drei Krisen fordern unser Handeln, so Hartmut NASSAUER (CDU): die Finanzkrise, die Krise unserer vertraglichen Grundlagen sowie die Krise der Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern. Die EVP unterstütze das Legislativ- und Arbeitsprogramm der Kommission in ihren Grundzügen, werde aber einige Akzente anders setzen und Erwartungen formulieren. Beschäftigung und Wachstum stünden zu Recht an der Spitze des Arbeitsprogramms. Nassauer forderte möglichst rasch Vorschläge zur Neugestaltung der Finanzmärkte. Regulierung sei aber kein Zweck an sich, sondern in einer Krisenzeit ein Instrument, um bestimmte Ziele zu erreichen.

Hannes SWOBODA (SPÖ) bemängelte, das Arbeitsprogramm der Kommission stehe allzu oft unter dem Motto: Weiter so wie bisher. In manchen Bereichen sei das richtig, in vielen aber nicht, etwa im Finanzbereich. Hier müsse ein Signal gesetzt werden, dass die EU aus der Krise gelernt habe. Swoboda kritisierte auch, dass gemeinwirtschaftliche Dienste im Programm für 2009 nicht vorkämen. In manchen Ländern gebe es eine Krise der Post. Die Kommission müsse für öffentliche gemeinwirtschaftliche Dienste eintreten. Der Markt könne nicht alles regeln.

Das Ergebnis des Treffens in Washington sei ein "kleinster gemeinsamer Nenner", doch die Strukturanpassungspolitik, die Menschen in Elend geführt habe, solle nun "zum Oberaufseher" werden, kritisierte Sylvia-Yvonne KAUFMANN (KVEL/NGL, Deutschland). Trotz seines Scheiterns werde mit dem System nicht gebrochen, es sei "schizophren", dass Billionen von Euro eingesetzt würden, um Banken zu retten: "Mit diesem Geld hätte man längst Probleme der Armut und des Klimawandels lösen können". Die EU solle den Mut haben, den "mausetoten Stabilitätspakt" durch einen Wirtschafts- und Sozialpakt zu ersetzen. "Gewinne werden privatisiert, Verluste sozialisiert", so Kaufmann. Der Neoliberalismus habe "abgewirtschaftet" und es sei höchste Zeit für einen "wind of change" in Europa.

Seit Monaten würden Automobilverbände gegen die Vorschläge der Grünen mobilisieren; die Vorschläge würden "verweicht und verwässert", kritisierte Rebecca HARMS (Grüne/EFA, Deutschland). "Die Industrie nutzt die Finanzkrise, um noch mehr Druck zu machen", doch "Lügen haben kurze Beine". Es sei Ernsthaftigkeit gefragt: "Machen wir Ernst damit, aber hören wir auf, leere Reden zu halten".

Andreas MÖLZER (fraktionslos, Österreich) sagte, die EU könne sich im Moment über wachsendes Vertrauen freuen, die Bürger hofften, dass die Union stark genug sei, die Krise abzuwehren. Tatsächlich habe Europa durch den Euro und den Binnenmarkt die Chance, die Krise zu überwinden, doch sie habe dem Bürger gegenüber auch Pflichten. Man müsse die EU-Bürger "vor grenzenloser Profitgier" schützen; wenn es Kredite für die Autoindustrie gebe, müsse es auch Stützen für kleine und mittlere Betriebe geben.

Das Beihilferecht müsse geprüft werden und auf die Krise ausgerichtet werden, so Manfred WEBER (CSU). Mit Blick auf das Kommissionsprogramm und die innere Sicherheit sei er "enttäuscht". Im Kampf gegen die organisierte Kriminalität komme man nicht voran. Zum Thema Migration sagte er, die Menschen würden für Migration sein, wenn man deutlich mache, dass man illegale Einwanderung bekämpfe.

Die Kontrolle der EU-Gelder und wie diese ausgegeben werden, bleibe auf der Agenda. "Wir sind nicht zufrieden mit dem Programm der Kommission in dieser Hinsicht", so Ingeborg GRÄSSLE (CDU). Das Amt zur Betrugsbekämpfung OLAF müsse besser ausgestattet werden. Der Rat blockiere und könne sich nicht einigen. Sie verstehe auch nicht, dass einer der größten Erfolge der Kommission, die Offenlegung der Subventionsempfänger, nicht weiterverfolgt werde. "Wir erwarten mehr als vorgelegt wurde".

Die Bevölkerung sei immer Leid tragend in solchen Krisen, so Harald ETTL (SPÖ), und Arbeitnehmer, die nun ihren Job verlieren, seien die "Zahlenden". Man müsse einen Notfallplan einleiten, um solchen Krisen in Zukunft vorzubeugen. "Wir müssen ein stärkeres Instrument aufbauen, um Krisen besser aufhalten zu können". Auch der Zugang zu Krediten müsse nun gesichert werden, um Wiederaufbau und Wachstum zu garantieren.

Erika MANN (SPD) sprach die Rolle des Staates an, der sich zunehmend integrieren müsse und die EU habe nun die "exzellente Gelegenheit", dies einzuleiten. Man müsse hierfür auch die Gesetzgebung überprüfen. Mann sprach u.a. das VW-Gesetz an, hier müsse man anders verfahren, um zu zeigen, dass man das "Symbol der Zeit" verstanden habe. Zudem müsse man sich international organisieren, sie hoffe sehr, dass auch die G20 sich zu einer langfristigen Einrichtung entwickeln würde.
     
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