Leben wir in einer Verdachtsgesellschaft und einem Überwachungsstaat?   

erstellt am
02. 10. 09

Parlament startet neue Buchpräsentation unter dem Titel Quadriga
Wien (pk) - Nach der österreichischen Erstaufführung von Michael Hanekes Film "Das weiße Band" wartete am 01.10. das Parlament mit einer weiteren Premiere auf. Die bereits traditionell gewordenen Buchpräsentationen im Hohen Haus erhalten ein neues Kleid in Form der Veranstaltungsreihe "Quadriga". Der Titel nimmt auf die bronzenen Pferdegespanne mit der Siegesgöttin Nike auf dem Parlamentsdach Bezug.

Neuerscheinungen, die jeweils ein Thema aus den Bereichen Politik und Zeitgeschichte, Recht und Wirtschaft, sowie Kunst, Kultur und Literatur behandeln, werden gemeinsam vorgestellt und diskutiert. Mit dieser Form der Präsentation möchte Nationalratspräsidentin Barbara Prammer Themen der Zeit diskutieren, die nicht ausschließlich tagespolitischen Charakter haben, und damit auch den Blick erweitern. Moderiert wird die neue Reihe von der Rundfunkjournalistin Zita Bereuter (FM4) und ihrem Kollegen Peter Zimmermann (Ö1).

Zum Auftakt hat man sich ein brisantes und auch vor dem Hintergrund des laufenden Untersuchungsausschusses aktuelles Thema vorgenommen: "Überwachung – Bespitzelung – Sicherheit". Dabei wurde das Spannungsverhältnis zwischen berechtigtem Sicherheitsbedürfnis und Einschränkung der persönlichen Freiheit, zwischen Überwachungsstaat und Abbau von Bürgerrechten beleuchtet. Man ging der Frage nach: Was geschieht mit all den Daten, wer verwaltet sie, wer garantiert, dass das, was heute als unverdächtig gilt, sich nicht morgen gegen den Einzelnen richtet? Wie viel Kontrolle ist uns unsere Sicherheit wert?

Grundlage für das heutige Thema bildeten folgende Werke: Ilija Trojanow und Juli Zeh: Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte (Hanser Verlag 2009); Ines Geipel: Zensiert, verschwiegen, vergessen (Artemis und Winkler 2009); Dietmar Kammerer: Bilder der Überwachung (Suhrkamp 2008).

Am Podium diskutierten die Autorin Ines Geipel, ehemalige vom Staat bespitzelte Leistungsathletin in der DDR, die sich in ihrem Buch mit Autorinnen der DDR beschäftigt, die in ihrer Arbeit behindert, zensuriert, ausspioniert und teilweise in den Tod getrieben wurden; weiters der Journalist und Kulturwissenschafter Dietmar Kammerer, der in seiner Arbeit den sozialen, kulturellen und soziologischen Kontext von Videoüberwachungen unter die Lupe nimmt, sowie der investigative Journalist des "Falter" und Jurist Florian Klenk.

Der Befund der DiskutantInnen über die derzeitige Situation war differenziert. Klenk sprach von einem Paradigmenwechsel, da Daten ohne Zweck gesammelt würden. Die Polizei würde ständig neue Überprüfungsmethoden verlangen, ohne diese auch tatsächlich zu brauchen. Das sei ein Sprung in die Verdachtsgesellschaft, sagte er und führte Beispiele falscher Datenverknüpfung an, was sich für den Einzelnen fatal auswirkt. In diesem Zusammenhang sprach sich Klenk dezidiert gegen die Rufdatenrückerfassung aus. Er trat jedoch nicht grundsätzlich gegen das Recht des Staates auf, Eingriffe in die Grundrechte vorzunehmen, wenn dies erforderlich ist. In diesem Fall müsse es aber einen rechtsstaatlichen Riegel geben, und das seien die RichterInnen, die festzustellen haben, ob diese Grundrechtseingriffe auch gerechtfertigt sind, betonte er. Im Unterschied zu einer Diktatur habe man im Rechtsstaat auch die Möglichkeit, diesen selbst zu kontrollieren.

Die Notwendigkeit, das richtige Maß anzulegen und rechtsstaatliche Regelungen zu finden, wurde auch von Ines Geipel unterstrichen. Es sei für die Menschen wichtig, über ihre eigenen Rechte Bescheid zu wissen, was weitgehend nicht der Fall sei. Man müsse immer die Frage stellen, ob es sich bei bestimmten Maßnahmen um eine notwendige Regulierung oder eine übersteuerte Kontrolle handelt.

Eine solche übersteuerte Kontrolle stellt nach Auffassung von Dietmar Kammerer die Videoüberwachung dar. Es sei empirisch erwiesen, so Kammerer, dass die Wirkung dieses riesigen technologischen Aufwands äußerst gering sei, die Kriminalitätsrate kaum gesenkt werde und in Hinblick auf gewalttätige Personen gar nichts bringe. Es habe sich jedoch eine Eigendynamik entwickelt, ohne dass Grenzen gezogen würden. Die Aushöhlung der Grundrechte gehe schleichend vor sich, warf Florian Klenk ein, und das Gefährliche daran sei, dass man sich daran gewöhne.

Der "Falter"-Journalist wies auch auf die Gefahren der modernen Informationsgesellschaft hin. Während im Rechtsstaat Regelungen zur Löschung von Daten vorhanden seien, würde beispielsweise bei Google nichts in Vergessenheit geraten. Dem stimmte Dietmar Kammerer vollinhaltlich zu, indem er feststellte, die Informationsgesellschaft sei gleichbedeutend mit einem potentiellen Überwachungsstaat. Die meisten Bürgerinnen und Bürger hätten keine Ahnung davon, was der Staat tatsächlich kann, und wären in Bezug auf die Möglichkeiten der neuen technologischen Entwicklungen richtige Analphabeten.

Alle drei DiskutantInnen waren sich einig, dass das Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger für ihre eigenen Grundrechte geschärft werden muss, dass dieser Aspekt im Bildungswesen völlig vernachlässigt wird, und dass die Einhaltung der Grundrechte ohne Wenn und Aber einzufordern ist.
     
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