Forschung am Ursprung des modernen Europa   

erstellt am
21. 06. 10

Historiker starten internationales Großprojekt - Einziges unter österreichischer Leitung
Wien (scinews) - Finster und rückständig - so lautet seit rund eineinhalb Jahrtausenden das gängige Vorurteil zum Mittelalter. "Absolut zu unrecht, denn kulturell war diese Zeitepoche sehr dynamisch. Sie bildet den Ursprung unseres heutigen modernen Europa", das erklärt der Historiker Univ.-Prof. Dr. Walter Pohl vom Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien am 21.06. in einer Aussendung. Pohl leitet seit Kurzem im Rahmen der EU-Initiative "HERA" das internationale Großprojekt "Cultural memory and resources of the past, 400-1000 AD".

Das ist das einzige dieser Projekte, welches von Österreich aus - vom Institut für Mittelalterforschung der ÖAW mit Sitz in Wien - geleitet wird. "Fast alle Werke des Altertums, auch die Bibel, sind uns in mittelalterlichen Handschriften überliefert. Die kreative und kritische Auseinandersetzung mittelalterlicher Gelehrter mit der Vergangenheit hat unser Bild von der Antike mit geprägt. Das Frühmittelalter war eine schöpferische Zeit. Auch die ethnische und politische Landkarte unseres heutigen Europa hat sich damals entwickelt", sagt Pohl.

Kultureller Aufschwung im Mittelalter
Auf einer anderen Ebene hat das Mittelalter nach Angaben des Historikers ebenso sehr viel mit unserem heutigen Leben zu tun. "Knöpfe, Brillen, Gabeln, Taschen- und Turmuhren, Buchführung und Bankwesen, all diese Errungenschaften sind keine Erfindungen der aufgeklärten Moderne, sondern sie verbreiteten sich bereits im Mittelalter", betont der Experte. Tausende Originalmanuskripte sind aus dem Frühmittelalter erhalten. Sie dienen den Wissenschaftlern im Zuge ihres neuen Großprojektes als wertvoller Forschungsschatz. Ganz im Gegensatz zu weit verbreiteten Vorurteilen belegen diese Überlieferungen nach Angaben Pohls den kulturellen Aufschwung, der im Mittelalter stattfand. Auch geben diese "Juwelen auf Pergament" darüber Auskunft, wie die Prozesse der Überlieferung selbst abgelaufen sind.

Das Teilprojekt "Learning Empire - creating cultural resources for Carolingian rulership" ist der österreichische Part des HERA-Projektes "Cultural memory and resources of the past, 400-1000 AD", welches ebenfalls von Pohl geleitet wird. Die Wissenschaftler rund um den renommierten Historiker konzentrieren sich in ihrem Projekt-Teil auf Italien und das Gebiet des ehemaligen Fränkischen Reiches, das ab dem 5. Jahrhundert nach dem Zerfall des Römischen Reiches entstand und aus dem zahlreiche Manuskripte erhalten sind. Übergeordnetes Forschungsthema des Gesamtprojektes ist das kulturelle Gedächtnis des Frühmittelalters.

Das Wiener Team arbeitet dabei mit Kolleginnen und Kollegen der britischen Universitäten Cambridge und Leeds sowie der niederländischen Alma Mater in Utrecht zusammen. Mit "Frühmittelalter" wird die Zeitspanne von 400 bis 1000 n. Chr. bezeichnet. Die Projektsumme von einer Million Euro wird von der European Science Foundation (ESF) verwaltet. Das Forschungsvorhaben findet im Zuge des EU-Programmes "Humanities in the European Research Area", kurz "HERA", statt. Diese Initiative hat das Ziel, die Geisteswissenschaften in Europa besser zu vernetzen.

Im Rahmen dieses Programmes wurden heuer insgesamt 20 Forschungsprojekte aus Europa genehmigt, eines davon aus Österreich. Ein erstes "Kick-off-Meeting" aller Teilprojekte von "HERA" findet kommendes Wochenende im Hotel & Palais Strudlhof in Wien statt. Das Programm dieser "HERA JRP Launch Conference" ist HIER > nachlesbar:

Pionierarbeit aus Österreich
Zur Erforschung ethnischer Prozesse im Mittelalter, insbesondere im Frühmittelalter, leisten die Historiker ausgehend von Wien seit über drei Jahrzehnten Pionierarbeit. Als "Wiener Schule" der historischen Ethnographie haben diese Forschungen besonders durch die Arbeiten des renommierten Mediävisten Univ.-Prof. Dr. Herwig Wolfram sowie des Wittgensteinpreisträgers Univ.-Prof. Dr. Walter Pohl internationale Geltung erreicht. Die Zeitspanne von 400 bis 1000 n. Chr. war zuvor von der Wissenschaft wenig berücksichtigt worden. International bekannte Arbeitsgebiete des Institutes sind unter anderem die Erforschung der Entstehung der europäischen Völker, die Herausgabe und Bearbeitung mittelalterlicher Urkunden sowie die Dokumentation aller österreichischen Inschriften des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Es wurde 1998 als Forschungsstelle gegründet und besteht seit 2004 als Institut.
     
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