steirischer herbst 2010   

erstellt am
16. 06. 10

Meister, Trickster, Bricoleure – Virtuosität als Strategie für Kunst und Überleben
Graz (steirischer herbst) - „Meister, Trickster, Bricoleure“, das Leitmotiv des steirischen herbst 2010 spielt mit den unterschiedlichsten Aspekten von Virtuosität: Als Fähigkeit, mit handwerklichem Geschick den Inhalt zu überhöhen oder uns vom Eigentlichen abzulenken, ist sie nicht nur eine Sache der Meister – sie ist auch das wichtigste Instrument aller Taschendiebe und Hütchenspieler. Der Steuerhinterzieher gehört ebenso zur zweideutigen Welt des Virtuosen wie der Bricoleur als Bastler mit allem, was zur Hand ist. Aber auch das Vereinen von Beruf, Leben und Sozialem erfordert eine Virtuosität im permanenten Jonglieren mit disparaten Anforderungen, die keine Ausnahme mehr, sondern tagtäglicher Ausnahmezustand für viele geworden ist. Das Spektrum der Virtuosität ist also weit und so auch die im Festival gezeigten Arbeiten.

Für die Eröffnungsproduktion „Maschinenhalle #1“ haben sich der Komponist Bernhard Lang, die Choreografin Christine Gaigg, der Medienkünstler Winfried Ritsch und der Lichtdesigner und Bühnenbildner Philipp Harnoncourt zusammengetan: zwölf Tänzerinnen und Tänzer in enger gegenseitiger Abhängigkeit mit zwölf computergesteuerten Automatenklavieren. Das virtuos Schöne und zugleich Unheimliche der Arbeiten von Gisèle Vienne kann man in ihrer neuen Arbeit „This is how you will disappear“ erleben, das Performance-Duo Lone Twin steht hinter „Beastie“, einer einzigartigen Mitmach-Performance für Kinder und der argentinische Regisseur Mariano Pensotti hat Autoren aus aller Welt um Einträge in seine „Enzyklopä! die des ungelebten Lebens“ gebeten. Fünf Chinesen bringt die ungarische, in Amsterdam lebende Theatermacherin Edit Kaldor auf die Bühne und das Theater im Bahnhof lässt in einem Grazer Shopping Center einen Konsumenten sterben. Der steirische herbst 2010 zeigt weiters Uraufführungen der New Yorker Regisseurin Annie Dorsen, des österreichischen Choreografen Philipp Gehmacher, deritalienischen Filmemacher Zapruder und freut sich den großen William Forsythe und seine Company erstmals in Graz zu präsentieren. Weiters stehen Arbeiten der Berliner Performance-Gruppe Showcase Beat Le Mot, des französischen Performers Gaetan Bulourde und einer Vielzahl weiterer Künstl! erinnen und Künstler am Prgramm.

Nomadisch wie das Festival ist auch sein Zentrum, das in jedem Jahr einen neuen Ort findet und sich dort auf Zeit heimisch niederlässt – diesmal im Forum Stadtpark, gestaltet vom jungen österreichischen Architekturkollektiv feld72. Virtuosen, Meister, Bricoleure sind hier während der Festivalzeit zahlreich anzutreffen – bei Clubkonzerten, Vorträgen, Filmabenden oder einfach an der Bar. Für acht Tage bezieht hier das „Casino of Tricks“ der geheimagentur sein Quartier und Susanne Kudielka und Kaspar Wimberley werden vom Balkon des Festivalzentrums aus ein Feldforschungsprojekt zum Geschehen rund um den Stadtparkbrunnen betreiben.

Der zweite Teil der von Sabine Breitwieser kuratierten herbst-Ausstellung für den öffentlichen Raum, „Utopie und Monument“, widmet sich heuer der „Virtuosität des Öffentlichen“. Zehn Künstlerinnen und Künstler sowie zwei universitäre Einrichtungen entwickeln Projekte zu dieser Thematik für den Stadtraum von Graz. „Milk Drop Coronet“ in der Camera Austria versammelt 30 Künstler, die in ebenso vielen Tischvitrinen jeweils ihre eigene Ausstellung zur „Virtuosität des Dinglichen“ gestalten. Die Arbeit des schwedischen Künstlers Matts Leiderstam im Grazer Kunstverein lebt davon, in der kanonischen Ordnung von Museen, Sammlungen von Werken großer Meister der Kunstgeschichte permanent produktive Verwirrung zu stiften und dabei Neues zu entdecken, während das Linzer Kunstkollektiv qujOchÖ die Methoden derer analysiert, die finanzkapitalistische Zusammenhänge für ihre Zwecke ausnützen und das System raffiniert hintergehen – die Trickster der internationalen Finanzmärkte. Mit Franz West im Kunsthaus Graz, dem rumänischen Zeichner Dan Perjovschi im Festivalzentrum, dem Schweizer Künstler San Keller im Romantik Parkhotel, der russischen Gruppe Kollektive Aktionen bei kultur.at in Gleisdorf sowie in Ausstellungsprojekten im Kunstverein Medienturm, der ESC im LABOR, im Pavelhaus und bei <rotor> wird es zahlreiche weitere Virtuosen zu entdecken geben. Die Kunsthaus-Schau „Roboterträume“ schließlich begibt sich einmal mehr an die Ränder menschlicher Vorherrschaft.

Das musikprotokoll agiert an den Grenzen musikalischer Virtuosität, sei es in einem radikal ausdauernden Selbstversuch Marino Formentis, mit der instrumentalen Meisterschaft eines Arditti Quartet oder eines Klangforum Wien, mit der vorgeblichen Anti-Virtuosität eines Klaus Lang oder der Technik, die 35 Musikerinnen und Musiker erlernen müssen, um ein gänzlich neuartiges Instrument zu spielen: Constantin Lusers „Molekularorgel“ wird mit einem Stück des jungen steirischen Komponisten Peter Jakober eingeweiht.
     
Informationen: http://www.steirischerherbst.at    
     
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