Wien und Ankara können mit ihrem Dissens in EU-Frage ganz gut leben   

erstellt am
07. 10. 10

Gül: "Waren auch im Ersten Weltkrieg auf der gleichen Seite" - Spindelegger für "gemeinsame Zukunft" mit der Türkei
Istanbul/Ankara (apa/bmeia) - Wenn ein EU-Staat einem Kandidatenland den Beitritt verwehren will, müsste zwischen den beiden eigentlich ziemlich dicke Luft herrschen. Österreich und die Türkei können mit ihren diesbezüglichen Meinungsverschiedenheiten aber offenbar ganz gut leben. So fiel der Empfang für Außenminister Michael Spindelegger (V) bei seinem ersten Türkei-Besuch besonders herzlich aus. Staatspräsident Abdullah Gül zeigte sich äußerst konziliant, während Spindelegger die Ablehnung des türkischen EU-Beitritts in ganz weiche Watte packte.

Es scheint, als hätten sich Wien und Ankara im Umgang mit der EU-Beitrittsfrage auf die gleiche Strategie verlegt: Verständnis für die Position des anderen und Überzeugungsarbeit, damit er es sich vielleicht doch noch überlegt. So betonte Spindelegger vor dem Treffen mit Gül am Mittwoch in Istanbul, dass er die Türkei "nicht provozieren" wolle: Man müsse "rauskommen" aus der ständigen Debatte über den EU-Vollbeitritt und sich stattdessen auf eine pragmatische Kooperation verlegen. Unausgesprochener Nachsatz: Warten wir ab, vielleicht wollen die Türken in ein paar Jahren selbst nichts mehr von einer EU-Vollmitgliedschaft wissen.

Gül wiederum anerkannte im Gespräch mit Spindelegger das souveräne Recht jedes einzelnen EU-Staates, über den Beitritt der Türkei zu entscheiden. Explizit sprach Gül in diesem Zusammenhang auch die geplante österreichische Volksabstimmung zum türkischen EU-Beitritt an, verlautete aus Diplomatenkreisen. Ein Fügen in das Unvermeidliche oder schlicht Kalkül, dass es kontraproduktiv ist, sich jetzt in ein Referendum zu verbeißen, das erst in vielen Jahren - wenn überhaupt - auf die Tagesordnung kommen wird?

Jedenfalls zog der frühere türkische EU-Chefunterhändler alle Register, um bei seinem österreichischen Gast für die EU-Mitgliedschaft seines Landes zu werben. "Man übersieht oft, dass wir auch im Ersten Weltkrieg auf der gleichen Seite waren", erinnerte Gül nach Diplomatenangaben auf die Waffenbrüderschaft zwischen der österreichisch-ungarischen Monarchie und dem Osmanischen Reich zwischen 1914 und 1918. Und mit Blick auf den Einsatz Österreichs für einen raschen EU-Beitritt der Westbalkan-Staaten fügte der konservative Politiker hinzu: "Im Grunde genommen sind wir auch ein Balkan-Staat."

Das Hauptargument der türkischen Regierung für einen EU-Beitritt ist aber die gute Wirtschaftsentwicklung des Landes. Mit einer Wachstumsrate von sechs Prozent wird die Türkei heuer die Konjunkturlokomotive unter den Staaten der Organisation für Wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) sein. Österreich profitiert von diesem Boom, etwa durch eine Steigerung seiner Exporte in die Türkei um ein Drittel allein im ersten Halbjahr 2010. Gül wies auch darauf hin, dass 350 österreichische Unternehmen Niederlassungen in der Türkei haben.

Der Wirtschaftsboom soll den wichtigsten Einwand gegen einen EU-Beitritt der Türkei entkräften, nämlich, dass das Land ein Fass ohne Boden für die milliardenschwere EU-Agrar- und Regionalpolitik wäre. Die Türkei sieht sich als Energiedrehscheibe, dynamisch wachsende Industrienation und riesiger Absatzmarkt für EU-Unternehmen, deren Heimmärkte gesättigt sind. Außenminister Spindelegger nahm diesen Ball auf und sieht vor allem die nordtürkische Schwarzmeerregion, wo er am Freitag dem Spatenstich für ein 600 Millionen Euro teures OMV-Gaskraftwerk beiwohnen wird, als "Zukunftsmarkt" für österreichische Unternehmen.

Zugleich bemühte sich der Außenminister, das österreichische Nein in Sachen türkischer EU-Beitritt in möglichst gefällige Worte zu kleiden. "Wir sind nicht die Bremser", verwies er auf die Blockade mehrerer Verhandlungskapitel durch Frankreich und Zypern. Für Österreich seien die Beitrittsverhandlungen "wichtig, weil die Türkei (dabei) europäische Standards erfüllen muss", betonte er. Bei einem Empfang für Auslandsösterreicher und türkische Politiker in der Botschaft in Ankara klammerte Spindelegger die EU-Frage zwar aus, bekannte sich aber dazu, "mit der Türkei eine gemeinsame Zukunft aufzubauen". Beim Buffet ließ er dann das Wiener Schnitzel demonstrativ links liegen und marschierte zielstrebig zum Döner-Spieß.
     
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