Warum der Mittelfinger so eine lange Leitung hat   

erstellt am
07. 02. 12

PNAS: Hemmung von den Nachbarnervenzellen bestimmt die Reaktionsgeschwindigkeit – RUB-Neurowissenschaftler finden neue Rolle der kortikalen Karten
Bochum (universität) - Jeder Körperteil besitzt im Gehirn einen eigenen Nervenzellbereich -
wir haben also eine Karte unseres Körpers im Kopf. Die funktionelle
Bedeutung dieser Karten ist aber weitgehend unklar. Welche Auswirkungen
sie haben können, haben RUB-Neurowissenschaftler jetzt mit
Reaktionszeitmessungen in Kombination mit Lernexperimenten und
"computational modeling" gezeigt. Sie konnten belegen, dass hemmende
Einflüsse benachbarter "Fingernervenzellen" die Reaktionszeit eines
Fingers beeinflussen. Finger am Rand - also Daumen und kleiner Finger -
reagieren deswegen schneller als der Mittelfinger, der dem "Störfeuer"
von je zwei Nachbarn pro Seite ausgesetzt ist. Durch gezieltes Lernen
lässt sich dieser Geschwindigkeitsnachteil ausgleichen. Die AG von PD
Dr. Hubert Dinse (Neural Plasticity Lab am Institut für
Neuroinformatik) berichtet in der aktuellen Ausgabe von PNAS.

Daumen und kleiner Finger sind die flottesten
Die Forscher stellten Versuchspersonen eine einfache Aufgabe, um die
Entscheidungsgeschwindigkeit zu messen: Sie zeigten ihnen auf einem
Monitor eine Grafik, die alle zehn Finger darstellte. Wurde einer der
Finger markiert, sollte der Proband so schnell wie möglich mit
ebendiesem Finger eine entsprechende Taste drücken. Daumen und kleiner
Finger waren dabei am schnellsten. Der Mittelfinger bildete das
Schlusslicht. "Man könnte jetzt vermuten, dass das anatomische Gründe
hat oder von der Übung abhängt", so Dr. Dinse, "aber das konnten wir
mit weiteren Tests ausschließen. Im Prinzip kann jeder Finger gleich
schnell reagieren. Erst bei der Auswahlaufgabe ist der Mittelfinger
deutlich benachteiligt."

Computersimulation bildet Gehirnkarten ab

Um ihre Beobachtung zu erklären, nutzten die Forscher
Computersimulationen auf der Basis eines sog. mean field-Modells. Es
ist speziell für die Modellierung großer Nervenzellnetzwerke im Gehirn
geeignet. Für diese Simulationen wird jeder einzelne Finger durch eine
Gruppe von Nervenzellen repräsentiert, die in Anlehnung an die
tatsächlichen Verhältnisse im somatosensorischen Cortex des Gehirns in
Form einer topographischen Karte der Finger angeordnet sind.
"Benachbarte Finger liegen auch im Gehirn und somit auch in der
Simulation benachbart", erläutert Dr. Dinse. Die Kommunikation der
Nervenzellen untereinander ist dabei so organisiert, dass die
Nervenzellen durch wechselseitige Erregung und Hemmung interagieren.

Hemmende Einflüsse von beiden Seiten verlangsamen den Mittelfinger
Die Computersimulationen zeigten, dass die längere Reaktionszeit des
Mittelfingers in einer Mehrfachwahlaufgabe eine Folge der Tatsache ist,
dass der Mittelfinger in der Reichweite der Hemmung von jeweils zwei
benachbarten Fingern liegt. Daumen und kleiner Finger dagegen erhalten
hemmenden Einfluss vergleichbarer Stärke von nur jeweils einem
Nachbarfinger. "Mit anderen Worten: Die hohe Hemmung, die die
Nervenzellen der Mittelfinger erhalten, sorgt dafür, dass es länger
dauert, bis Erregung aufgebaut ist - sie reagieren dadurch langsamer",
verdeutlicht Dr. Dinse.

Gezielte Reduzierung der Inhibition durch Lernen
Aus den Ergebnissen der Computersimulation lässt sich folgern, dass
eine schwächere Hemmung durch die Nachbarfinger die Reaktionszeit des
Mittelfingers verkürzen müsste. Dazu wäre eine sog. plastische
Veränderung des Gehirns notwendig - Spezialgebiet des Neural Plasticity
Lab, das sich seit Jahren mit der Entwicklung von Lernprotokollen
beschäftigt, welche solche Veränderungen auslösen. Ein solches
Protokoll ist die wiederholte Stimulation bestimmter Nervenzellgruppen,
die das Labor schon in vielen Experimenten eingesetzt hat. "Wenn man
zum Beispiel einen Finger elektrisch oder per Vibration über zwei bis
drei Stunden stimuliert, dann verändert sich seine Repräsentation im
Gehirn", erklärt Dr. Dinse. Die Folge sind eine Verbesserung des
Tastsinns und eine messbare Verminderung der hemmenden Prozesse in
diesem Gehirnbereich. Daraus resultiert auch die Vergrößerung der
Repräsentation des stimulierten Fingers.

Zweites Experiment bestätigt die Vorhersage
Die Bochumer Forscher führten nun ein zweites Experiment durch, in dem
der rechte Mittelfinger einer solchen Stimulation unterzogen wurde. Das
Ergebnis war eine deutliche Verkürzung der Reaktionszeit dieses Fingers
in der Auswahlaufgabe. "Dieser Befund bestätigt unsere Vorhersage",
fasst Dr. Dinse zusammen. Die Bochumer Arbeiten stellen somit erstmals
einen direkten Zusammenhang zwischen den sog. lateralen
Inhibitionsprozessen und Entscheidungsprozessen her. Sie zeigen, dass
Lernprozesse, die kortikale Karten verändern, weitreichende
Auswirkungen nicht nur für einfache Unterscheidungsaufgaben, sondern
für Entscheidungsprozesse haben können, die bisher sog. "höheren"
kortikalen Arealen zugeschrieben wurden.

Förderung
Die Forschungsarbeiten wurden gefördert durch die Studienstiftung des
deutschen Volkes und die Alexander von Humboldt Stiftung (Stipendien
Claudia Wilimzig, inzwischen am California Institute of Technology),
ein Stipendium der International Graduate School of Neuroscience der
RUB (Patrick Ragert, inzwischen am MPI für Kognitions- und
Neurowissenschaften, Leipzig), die Deutsche Forschungsgemeinschaft (Di
334/10) und den Bernstein Fokus Neuronale Grundlagen des Lernens (BFNL)
"Zustandsabhängigkeit des Lernens" (Hubert Dinse).

Titelaufnahme
Claudia Wilimzig, Patrick Ragert, und Hubert R. Dinse. Cortical
topography of intracortical inhibition influences the speed of decision
making, PNAS (2012), doi/10.1073/pnas.1114250109
     
Informationen: http://www.neuralplasticitylab.de    
     
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