Die Pein im Leib: Wenn das Bauchhirn den Schmerz erlernt   

erstellt am
15. 03. 12


Pöcking (idw) - Der Mensch hat zwei Gehirne – eines im Kopf, ein zweites im Bauch. Die beiden Gehirne haben viele Gemeinsamkeiten, kommunizieren miteinander und funktionieren nach ähnlichen Spielregeln. »Darum sind manche Prozesse im Bauchhirn mit der Chronifizierung von Schmerzen im Zentralnervensystem vergleichbar und wie bei der Chronifizierung von Rückenschmerzen wirken auch bei Bauchschmerzen innere und äußere Faktoren zusammen, wenn die Pein zum Dauerbegleiter wird«, erklärt der Duisburger Schmerztherapeut Dr. Günther Bittel auf dem Deutschen Schmerz- und Palliativtag 2012 in Frankfurt.

Zehn bis 25 Prozent aller schulpflichtigen Kinder leiden unter wiederkehrenden Bauchschmerzen. 90 Prozent dieser Kinder fehlen regelmäßig in der Schule, fast 30 Prozent verpassen mehr als zehn Prozent ihrer Schultage. Doch nur bei zehn Prozent der kleinen Patienten können die Ärzte eine klare Diagnose stellen. Nur selten wird eine bedeutsame körperliche Störung diagnostiziert, die spezifisch therapiert werden kann. Auch eindeutige psychische Einflußfaktoren lassen sich in den meisten Fällen nicht feststellen.

Die verbreitete Annahme, dass man wiederkehrende Bauchschmerzen ohne eindeutige Ursache nicht ernst nehmen müsse, weil diese sich »auswachsen« ist jedoch falsch: Etwa die Hälfte der betroffenen kleinen Patienten nimmt ihre Schmerzen ins Erwachsenenalter mit. Und oft kommen dann weitere Probleme dazu.

»Viele Patienten mit chronischen Bauchschmerzen leiden zusätzlich unter Durchfällen, Schlafstörungen und anderen psychovegetativen Folgeerkrankungen«, weiß der Duisburger Schmerztherapeut Dr. Günther Bittel.

Bauchschmerz als Dauerbegleiter
Wie viele Menschen an chronischen Bauchschmerzen leiden, lässt sich schwer abschätzen. In Untersuchungen schwanken – je nach Definition und Kriterien – die Zahlen zwischen 2,5 und 30 Prozent der Bevölkerung. Frauen sind häufiger betroffen. Schwer vorhersehbar ist auch der Verlauf. Die Symptome können sich im Laufe der Zeit ändern, stärker oder schwächer werden, verschwinden und wiederkommen. Doch in den meisten Fällen bleiben die Beschwerden ein Dauerbegleiter.

Totschlagdiagnosen und keine Therapie. Die Patienten machen allerdings oft die Erfahrung, dass ihre Beschwerden weder ernst genommen, noch adäquat behandelt werden. »Es werden Totschlagsdiagnosen wie »Reizdarm-Syndrom« und »somatoforme Störung« gestellt, kombiniert mit therapeutischem Nihilismus«, kritisiert Bittel. Dabei ist es sehr wohl möglich, häufige und wesentliche Ursachen der Beschwerden aufzudecken, etwa Laktose-, Fruktose- und Sorbit-Intoleranz, verzögerte Nahrungsmittelallergien, Gluten-Unverträglichkeit, Histamin-Intoleranz oder chronische Infektionen. »Nötig dazu ist jedoch eine exakte Befunderhebung, eine klinische Untersuchung, ergänzt durch ein Ernährungs- und Schmerztagebuch sowie eine exakte Labordiagnostik«, sagt Bittel.

Mehr als eine Darmerkrankung
Bei chronischen Bauchschmerzen geht es um mehr als um eine reine Darmerkrankung. Der ganze Magen-Darm-Trakt ist betroffen. »Eine wichtige Rolle spielt dabei das so genannte Darmhirn, das kurz ENS genannte enterale Nervensystem«, erklärt der Duisburger Schmerztherapeut. Mit seinen 150 Millionen Nervenzellen ist das ENS das größte zusammenhängende Nervensystem außerhalb des Zentralnervensystems. In ihm laufen Prozesse nach ähnlichen Spielregeln ab wie im Rückenmark oder im Gehirn. »Darum ist es nicht verwunderlich, dass sich auch im Nervensystem unseres Magen-Darm-Traktes Chronifizierungsprozesse abspielen können, die der Entwicklung eines Schmerzgedächtnisses im Zentralnervensystem ähneln«, sagt Bittel. Wie bei der Chronifizierung von Schmerzen im Rücken, wirken auch bei der Chronifizierung von Bauchschmerzen innere und äußere Faktoren zusammen: emotionale Aspekte, Entzündungsprozesse, Ernährung aber auch die mikrobiellen Bewohner des Darms, die Mikroflora.

Multimodale Therapiekonzepte
Ähnlich wie bei anderen chronischen Schmerzformen, setzen Schmerztherapeuten auch bei chronischen Bauchschmerzen heute auf multimodale Therapien, also Behandlungen, in denen verschiedene Strategien miteinander kombiniert und den individuellen Bedürfnissen eines Patienten angepasst werden. »Diese modernen Ansätze, bei denen Medikamente, psychosomatische und psychotherapeutische Strategien mit Ernährungsmedizin, mikrobiologischen Therapien und Naturheilverfahren kombiniert werden, haben eine gute Erfolgsrate«, sagt Bittel.
     
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