Österreich und Belgien erhalten mehr Zeit, um ihre Quotenregelungen für Studierende zu rechtfertigen 

 

erstellt am
19. 12. 12

Brüssel (ec.europe) - Die Europäische Kommission hat am 18.12. beschlossen, die Aussetzung rechtlicher Schritte gegen Österreich und Belgien im Zusammenhang mit der Quotenregelung für ausländische Studierende in den Fächern Medizin, Zahnmedizin, Physiotherapie und Veterinärmedizin zu verlängern. Damit wird das seit 2007 ruhende Vertragsverletzungsverfahren um weitere vier Jahre bis Dezember 2016 ausgesetzt unter der Bedingung, dass beide Länder schlüssige Beweise sammeln, weswegen diese Studiengänge von den EU-Vorschriften über die Freizügigkeit der EU-Bürgerinnen und -Bürger ausgenommen werden sollten, nach denen EU-Staatsangehörige mit entsprechender Zugangsberechtigung normalerweise ungehindert Zugang zur Hochschulbildung in sämtlichen Mitgliedstaaten haben.

Androulla Vassiliou, die EU-Kommissarin für Bildung, Kultur, Mehrsprachigkeit und Jugend, begrüßte diesen Beschluss: „Die Kommission hat der Argumentation Österreichs und Belgiens aufmerksam zugehört und eine ausgewogene Vorgehensweise beschlossen, die sowohl die Freizügigkeit der EU-Bürgerinnen und -Bürger als auch deren Recht auf eine hochwertige Gesundheitsversorgung berücksichtigt. Ende 2016 werden wir in diesen beiden Sonderfällen eine fundierte Entscheidung treffen können, und bis dahin einen soliden Rechtsrahmen geschaffen haben, der im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs steht und es uns erlaubt, gegebenenfalls ähnliche Probleme in anderen Mitgliedstaaten zu lösen.“

Nachdem Österreich und Belgien infolge eines massiven Anstiegs ausländischer Studienbewerberinnen und Studienbewerber für das Fach Medizin Quoten eingeführt hatten, wurden im Jahr 2007 Vertragsverletzungsverfahren gegen beide Länder eingeleitet (Einzelheiten siehe Hintergrund). Die ausländischen Studienbewerberinnen und Studienbewerber kamen hauptsächlich aus Nachbarländern mit derselben Landessprache – im Fall von Österreich aus Deutschland und im Fall von Belgien aus Frankreich.

Die Quotenregelungen stellten zwar einen eindeutigen Verstoß gegen den Grundsatz der Freizügigkeit von EU-Bürgerinnen und –Bürgern dar, allerdings räumte die Europäische Kommission ein, dass ein derart starker Zustrom möglicherweise später zu einem Engpass bei Fachkräften im öffentlichen Gesundheitswesen führen könnte. Die Kommission setzte daher ihr Vertragsverletzungsverfahren aus, um den beiden Mitgliedstaaten Gelegenheit zu geben, Beweise dafür zu sammeln, dass die Nachhaltigkeit ihres Gesundheitssystems gefährdet ist.

Hintergrund
In den vergangenen fünf Jahren haben Österreich und Belgien Beobachtungssysteme eingerichtet und Studien in Auftrag gegeben, um Prognosen über das Angebot an und die Nachfrage nach medizinischen Fachkräften zu erstellen. Sie wiesen jedoch darauf hin, dass es ihnen aus verschiedenen Gründen nicht möglich war, abschließend zu beurteilen, ob die Bedrohung ihrer Gesundheitssysteme groß genug war, um eine Ausnahme vom Grundsatz der Freizügigkeit zu rechtfertigen. Als Hauptgrund dafür wurde angeführt, dass der Beobachtungszeitraum nicht der Studien- und Ausbildungsdauer für medizinische Fachkräfte entsprach und dass es schwierig war, den wahrscheinlichen Einfluss anderer Faktoren wie Mobilität von Arbeitskräften, technologische Entwicklungen, sich ändernde Bedürfnisse der Bevölkerung und Reformen im Medizinbereich ausreichend genau zu abzuschätzen.

Währenddessen hatte der Gerichtshof der Europäischen Union außerdem ein wichtiges Urteil in dieser Sache erlassen (siehe unten), in dem klargestellt wurde, dass strenge evidenzbasierte Anforderungen erfüllt sein müssen, bevor Beschränkungen der Freizügigkeit von EU-Bürgerinnen und –Bürgern zum Schutz der Nachhaltigkeit von Gesundheitssystemen erlaubt werden dürfen.

Dadurch, dass die Kommission das Vertragsverletzungsverfahren um weitere vier Jahre aussetzt, erhalten Österreich und Belgien die Möglichkeit, ihre Informationsgrundlage zu verbessern und neue politische Optionen zu prüfen, die potenzielle Engpässe bei Fachpersonal verringern könnten. Die Ergebnisse dieser Beobachtungen und Prüfungen werden in ein verstärktes Monitoringprogramm einfließen, mit dem der Ärztebedarf dieser Länder prognostiziert werden soll. Vorbedingung für die Aussetzung ist, dass Österreich und Belgien das vereinbarte Monitoringprogramm durchführen.

EU-Kommissarin Vassiliou wird den zuständigen Behörden beider Länder ein Schreiben mit Erläuterungen zum Beschluss der Kommission übermitteln.

Die Rechtssache Bressol
In seinem Urteil in der Rechtssache Bressol vom 13. April 2010, in der ein französischer Student gegen die Quotenregelung in Belgien klagte, unterstrich der Gerichtshof die grundlegende Bedeutung der Freizügigkeit für Studierende, und machte klar, dass in diesem Fall finanzielle Argumente nicht angeführt werden könnten, um die Einschränkungen zu begründen. Der Gerichtshof räumte jedoch auch ein, dass die Notwendigkeit, die Qualität des öffentlichen Gesundheitswesens zu schützen, unter bestimmten, sehr strengen Bedingungen die Einschränkung des Grundrechts der Freizügigkeit rechtfertige. Im Urteil hieß es, dass auf der Grundlage verlässlicher, übereinstimmender Daten nachgewiesen werden müsse, dass die öffentliche Gesundheit tatsächlich gefährdet sei. Solche Gefahren wären z. B. eine schlechtere Ausbildung oder ein künftiger Mangel an medizinischem Fachpersonal. In Erwägung zu ziehen sei jedoch auch die Möglichkeit, medizinisches Fachpersonal aus anderen Mitgliedstaaten anzuwerben.

Sei die Gefahr nachgewiesen, so müssten die nationalen Behörden zeigen, dass die Maßnahmen, die zu deren Bewältigung ergriffen wurden, nicht nur notwendig sind, sondern das Risiko auch wirklich verringern; insbesondere sei nachzuweisen, dass durch die Begrenzung der Zahl ausländischer Studierender tatsächlich mehr medizinisches Personal im Inland zur Verfügung stehen wird. Schließlich hätten die nationalen Behörden nachzuweisen, dass sie keine weniger einschränkenden Maßnahmen hätten ergreifen können – z. B. die Schaffung von Anreizen für die Einstellung medizinischen Personals aus anderen Mitgliedstaaten oder für ausländische Studierende, damit sie nach ihrem Studium im Lande bleiben.

Österreich und Belgien haben mit der Kommission vereinbart, dass sie zur Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs nun ihre Monitoringsysteme aktualisieren und verbessern. Sie werden der Kommission Daten und fundierte Prognosen über die beruflichen Entscheidungen der Absolventinnen und Absolventen der betreffenden Studienfächer hinsichtlich des Landes ihrer Beschäftigung sowie der tatsächlichen Zu- und Abwanderung von Fachpersonal in den beiden Ländern liefern. Bis Ende 2016 sollten genügend Daten über mehrere Kohorten von Absolventinnen und Absolventen und ausreichende Informationen über künftige Trends vorliegen, die Einfluss auf die Zahl des Fachpersonals in den betreffenden Bereichen haben, so dass eine fundierte Entscheidung darüber getroffen werden kann, ob die strengen Bedingungen für eine Ausnahmeregelung aus Gründen der öffentlichen Gesundheit erfüllt sind. Ist dies nicht der Fall, gelten die normalen Freizügigkeitsvorschriften.

Quoten
Nach der österreichischen Quotenregelung sind 75 % der Human- und Zahnmedizinstudienplätze Inhaberinnen und Inhabern eines österreichischen Reifezeugnisses vorbehalten. In Belgien sind 70 % der Studienplätze für Veterinärmedizin und Physiotherapie für in Belgien wohnhafte Studierende reserviert (Beschränkungen für sechs andere Gesundheitsberufe wurden 2011 nach einem Urteil des belgischen Verfassungsgerichts aufgehoben).

In beiden Fällen ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass Staatsangehörige dieser beiden Länder diese Bedingungen erfüllen, als andere EU-Bürgerinnen und –Bürger. Dies stellt eine indirekte Diskriminierung dar, die dem EU-Recht zuwiderläuft, es sei denn, es kann nachgewiesen werden, dass diese Bedingungen erforderlich und angemessen sind, um ein legitimes Ziel zu erreichen.

Vor kurzem wurden in Belgien weitere Einschränkungen in den Bereichen Human- und Zahnmedizin eingeführt, die die Europäischen Kommission derzeit anhand dieser Grundsätze prüft.

 

 

 

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