steirischer herbst 2013

 

erstellt am
19. 06. 13
14.00 MEZ

Liaisons dangereuses: Alliancen, Mesalliancen und falsche Freunde – 20/09 - 13/10/2013
Graz (steirischerherbst) - „Alliancen, Mesalliancen und falsche Freunde: Liaisons dangereuses“ – das Leitmotiv des diesjährigen steirischen herbst fragt nach dem Wesen von gefährlichen Beziehungscocktails, nach Verbindungen, die in all ihrer Fragilität leidenschaftlich, explosiv, aber immer kraftvoll sind. Liaisons – die Übersetzung aus dem Französischen umfasst weit mehr als Techtelmechtel oder Liebesaffären, geht es doch um Verbindungen, Beziehungen und deren Transformation, in Gesellschaft, Kunst und Kultur, im Privaten wie in der Politik. Ging es vor einem Jahr beim steirischen herbst um die Rolle der Kunst in gesellschaftsverändernden Momenten, so fragen wir uns heuer daran anschließend: Welche Koalitionen und Kompromisse werden geschlossen, um Visionen und Ziele durchzusetzen? Welche Abhängigkeitsverhältnisse tun sich da auf? Welche Maß- und Missverhältnisse bilden sich in Seilschaften, Zwangsehen aller Art ab? Was, wenn der Grat zwischen Koalition und Korruption immer schmäler wird? Und was si! nd denn letztlich die Konstellationen, in denen nun endlich vorwärtszukommen wäre? Wie immer sind es mehr Fragen als Antworten, die uns bewegen.

Verbindungen und Auswahlkriterien bestimmen die multiple Eröffnung des steirischen herbst 2013 – auf besonders vielfältige Weise und an vielen Orten, mit Performance, bildender Kunst und Architektur: Der belgische Künstler Kris Verdonck präsentiert mit „H, an incident“ seine Vision des absurden Kosmos von Daniil Charms (Harms), einem russischen Dichter, der dem Terrorregime Stalins eine bizarre wie poetische Welt entgegensetzte. Parallel dazu wird die in Wien lebende, französische Choreografin Anne Juren ihre Interpretation von Kafkas „Amerika“ und Martin Kippenbergers Amerika-Installation uraufführen – „Happy End“ – und der Norweger Amund Sjølie Sveen seine neue Peformance-Lecture „Economic Theory for Dummies“, ein Crash-Kurs in Sachen Finanzwirtschaft. Zwischendurch eröffnet die herbst-Ausstellung „Liquid Assets“, die den Mysterien und dunklen Flecken de! r weitgehend virtualisierten globalen Geldströme nachspürt, und abends lädt der steirische herbst in das diesjährige Festivalzentrum: Für vier Wochenenden wird das ehemalige Zollamt und das daneben liegende Jugendkulturzentrum Explosiv besetzt werden, das deutsch-französische Landschaftsarchitektenteam atelier le balto verwandelt den ehemals zentralen Umschlagsort nahe dem Bahnhof zum Ex-Zollamt, ein pulsierendes Zentrum für viele künstlerische Ereignisse: Die herbst-Ausstellung „Liquid Assets“, die Installation „Close Link“, unberechenbare Künstlerabende, Kino-Nachmittage bei Kaffee und Kuchen, eine offene Werkstatt von Lisa D., ein Tauschmarkt des Modezirkus, zahlreiche Live-Konzerte sowie ein partizipatives Projekt von Suanne Kudielka und Kaspar Wimberley.

Die diesjährige, von Katerina Gregos und Luigi Fassi kuratierte herbst-Ausstellung fragt entlang des Leitmotivs nach den veränderten Beziehungen einer sich im virtuellen Raum ereignenden Finanzwirtschaft zu eben jenen realen Verhältnissen, die sie – nur maximalem Profit und nicht dem Gemeinwohl verpflichtet – sehr konkret und nachhaltig bestimmt: „Liquid Assets. Nach der Transformation des Kapitals“. An diese Thematik anschließend, bietet auch die herbst-Konferenz „Liaisons dangereuses“ am dritten Festivalwochenende einen Reflexionsrahmen, um Abhängigkeiten in Politik, Finanzwirtschaft und Gesellschaft nachzuspüren, und begibt sich auf die Suche nach emanzipatorischen Alternativen in Zeiten der Ungewissheit. Von den außergewöhnlichen Beziehungssystemen und Extremsituationen, die entstehen, wenn sich Menschen aufgrund einer Krankheit in isolierten Bewusstse! inslagen befinden, geht die Installation „Close Link“ aus, die am zweiten Festivalwochenende im Ex-Zollamt eröffnet wird. Das Künstlerduo hoelb / hoeb erforscht mittels künstlerischer Versuchsanordnung Räume und Alltagshandlungen, die Nahbeziehungen zu Wachkomapatienten kennzeichnen, zu Menschen, die mit geistiger oder körperlicher Beeinträchtigung leben, und führen dabei weniger das andere als das eigene Empfinden vor Augen.

Sie werden sie immer wieder und überall entdecken können – die Liaisonen im und zum diesjährigen Leitmotiv: Ob in den Piktogrammen von Andreas Siekmann, die das visuelle Erscheinungsbild des Festivals prägen, oder in den Ausstellungen der über die ganze Stadt verteilten Partnerinstitutionen des steirischen herbst: Der Grazer Kunstverein zeigt mit vier Positionen zeitgenössischer Kunst vier Versuche, über die Abstraktion sozialer Verhältnisse neue Zusammenhänge sichtbar zu machen, allen voran die jüngsten Arbeiten des New Yorker Künstlers Doug Ashford. „Beninese Solidarity with Endangered Westerners“ nennt sich die in Afrika gegründete NGO des Künstlers Romuald Hazoumé, der im Kunsthaus Graz die Umkehrung der gewohnten Verhältnisse thematisiert. Camera Austria wiederum untersucht, inwieweit der institutionelle Rahmen ! der Kunst zu einem Ort politischer Auseinandersetzung werden kann und lädt drei Initiativen aus unterschiedlichen Ländern – Beirut aus Ägypten, das serbische Kontekst collective und 0gms aus Bulgarien zu „Unexpected Encounters“. „I share, therefore I am“ – die Auswirkung digitaler Technologien auf zwischenmenschliche Beziehungen ist in der ESC im Labor Ausgangpunkt für eine Versuchsanordnung über Künstler und die von ihnen gewählten Werkzeuge. <rotor> reflektiert in einem Ganzjahres-Projekt „Maßnahmen zur Rettung der Welt“ und zeigt in seiner Ausstellung Positionen zwischen Radikalität und Kompromiss. Das Künstlerhaus, Halle für Kunst & Medien beschäftigt sich in „...Was ist Kunst? ....“ mit exemplarischen Positionen der teils historischen Avantgarde Ex-Jugoslawiens bis hin zur aktuellen Kunstproduktion in di! esem Raum, während das Pavelhaus, seinen Blick auf die zeitgenössische Kunstszene Ungarns richtet und das gespannte Verhältnis der Kunstschaffenden zur Regierung Orbán in Beziehung zum Widerstand gegen das kommunistische Regime setzt: „Out of the Museum and into the Street“.

Im Bogen der performativen Arbeiten – eine Fülle von Ur- und Erstaufführungen – werden weitere Beziehungen und Allianzen durchleuchtet und geschmiedet: Das italienische Künstlerkollektiv Dewey Dell schließt sich für seine neue Arbeit „Marzo“ mit dem Theatermacher und Dramatiker Kuro Tanino sowie mit dem japanischen Zeichenkünstler Yuichi Yokoyama zusammen. In perfektem Zusammenspiel von Choreografie, Kostümen, Licht und Musik entsteht ein Raum, weit entfernt von der Wirklichkeit. Antonia Baehr befasst sich in ihrer Soloperformance „Abecedarium Bestiarium“ mit irritierenden Verwandtschaften zwischen Tier und Mensch, und der Italo-Schweizer Massimo Furlan begibt sich in einem Auftragswerk auf die Spuren einer Sportikone seiner Kindheit. Die Karriere Arnold Schwarzeneggers, die ihren Anfang in Graz in einer Kraftkammer im Keller des Liebenauer Stadions nahm, ! dient ihm als Hintergrund für „Gym Club“, eine Untersuchung der Kultur des Bodybuildings. Der Experimentalfilmer Daniel Kötter und der Komponist Hannes Seidl untersuchen die grundlegenden Bedingungen sozialen Handelns vor dem Hintergrund der globalen Finanzkrise – die Ökonomie des Handelns mit Geld, symbolisiert durch den Berufsstand des Bankers. Kötter und Seidl holen für „Kredit“ Vertreter dieses Standes auf die Bühne. Der Schweizer Boris Nikitin geht in einer Koproduktion des steirischen herbst mit dem Schauspielhaus Graz der Selbstverwirklichung 2.0 nach: „Sei nicht du selbst!“ untersucht die sozialen Verbindungen, die Menschen heute in Peergroups, Cliquen und Selbsthilfegruppen eingehen. Eine besondere Beziehung verbindet die beiden japanischen Tänzerinnen Fumiyo Ikeda und Un Yam! ada: Seit einiger Zeit tauschen sie über E-Mail täglich ein Wort aus und haben so ein gemeinsames Vokabular von mehr als 900 Wörtern entwickelt, das ihnen als Ausgangspunkt für ihre Improvisation „amness“ dient.

Einige Liaisonen in diesem herbst dauern nur eine Nacht lang: Jeden Samstag spätabends präsentiert die Reihe Double Feature jeweils zwei internationale Bands exklusiv im Ex-Zollamt / Explosiv. Schon davor treffen sich in der benachbarten Halle der Festivalzone je zwei Künstlergruppen zu einem One Night Stand und gestalten gemeinsam einen Abend – monochrom mit der Lord Jim Loge etwa, die Rabtaldirndln mit Ann Liv Young oder Resanita und le balto. Der Donnerstagabend im Festivalzentrum gehört diversen Live-Acts, die das Grazer Label Interpenetration für den steirischen herbst kuratiert, und das Forum Stadtpark lädt für eine Nacht in einen Bunker – eine Gruppe scheinbar willkürlich zusammengewürfelter Menschen, die nach der Katastrophe gemeinsam auf das Ende warten. Auch das mittlerweile 45-jährige musikprotokoll ist eine Geschichte der liaisons dangereuses. Es liebt riskante Beziehungen, erkundet noch zu erforschende akustische Territorien und fädelt gewagte Erstbegegnungen ein – heuer etwa die des Elektronikmusikers und Produzenten Patrick Pulsinger mit dem RSO Wien oder der Komponistin Angélica Castelló mit der Biologin Heike Vester. Papageien sind die Rezipienten der Sounds des Künstlerkollektivs alien productions, in dessen Projekt „metamusic“ die Beziehung zwischen Kunst und Natur radikal gedacht wird. Diese und viele weitere Arbeiten etwa von Robert Lepenik & Winfried Ritsch, Heimo Lattner, Trio Zebra, Klangforum Wien werden am musikprotokoll-Wochenende präsentiert.

Eine Reihe von Künstlerinnen und Künstlern nehmen in diesem steirischen herbst die Verbindung zum ländlichen Umfeld auf und setzen damit punktuell künstlerische Akzente in der Steiermark. Während die Performer Robert Steijn und Frans Poelstra alias united sorry in den Wäldern von Peggau mit einem Ensemble aus jungen internationalen Performern ihr theatrales Unwesen treiben („the forest project“), erarbeitet das Theater im Bahnhof gemeinsam mit dem Gaststubentheater Gößnitz Hans Leberts Roman „Die Wolfshaut“ – und zieht damit durch steirische Wirtsstuben. Ganz anders Ann Liv Young, die als ihr blondiertes Alter Ego „Sherry“ mit einem Truck in der Steiermark unterwegs sein wird und Hilfesuchenden „Sherrapien“ mit Heilungserfolg anbietet. Die New Yorker Performerin präsentiert im Festival außerdem alle vier Teile ihrer ! neuen Arbeit „Sleeping Beauty“. Auf sanfte, verspielte Weise nimmt sie sich darin einer Figur aus der Märchenwelt an und untersucht, warum Dornröschen in herkömmlichen Geschichten derart flach und passiv daherkommt. Etwa 100 Personen hat der argentinische Theater- und Filmemacher Federico León in Graz für seine Produktion „Las Multitudes“ ausgewählt: Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene, Erwachsene, Seniorinnen und Senioren. Mit ihnen entwickelt er zum Abschluss des Festivals aus einer einfachen Liebesgeschichte ein poetisches, berührendes und mit feinem Witz durchwobenes Tableau der Generationen.

 

 

 

Informationen: http://www.steirischerherbst.at

 

 

 

 

 

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