Halbzeitzeugnis und Neustartversprechen
 für die Strategie "Europa 2020"

 

erstellt am
03. 11. 14
10.00 MEZ

Wien (wifo) - Die Halbzeitbilanz der Europa-2020-Strategie fällt ernüchternd aus: Die Ziele hinsichtlich Beschäftigung und Armutsvermeidung werden aus heutiger Sicht verfehlt. Die Bildungsziele scheinen erreichbar. Die Energieziele könnten bei verstärkten Bemühungen noch erreicht werden, sie waren allerdings sehr niedrig angesetzt. Österreich zählt zu den erfolgreicheren Ländern, bleibt aber ebenfalls hinter den Zielvorgaben z. B. für Forschung, Verringerung der Treibhausgasemissionen und Steigerung der Energieeffizienz zurück. Kurzfristig muss die EU einen Rückfall in die Rezession verhindern und die Absichtserklärungen für Wachstum und Beschäftigung schneller umsetzen. Mittelfristig ist die Verfolgung der Europa-2020-Ziele zu intensivieren, und langfristig muss die EU eine Strategie entwickeln, durch Innovationen und hohe soziale und ökologische Standards erfolgreich und dynamisch zu werden.

Die Halbzeitbilanz der Europa-2020-Strategie fällt ernüchternd aus: Das Ziel einer Steigerung der Beschäftigungsquote auf 75% bis 2020 wird nicht erreicht werden, derzeit sind 69% der erwerbsfähigen Bevölkerung beschäftigt, das Defizit zum Ziel beträgt 16 Mio. Personen. Die Zahl der in der EU von Armut und Ausgrenzung Betroffenen oder Bedrohten sollte bis 2020 um 20 Mio. sinken, ist aber um 10 Mio. auf 124 Mio. gestiegen. Erreichbar scheint das Ziel, die Schulabbrecherquote unter 10% zu drücken und die Zahl der Hochschulabschlüsse auf 40% der Jugendlichen zu erhöhen. Die Energieziele waren wenig ehrgeizig, sie scheinen aufgrund der schwachen Wirtschaftsentwicklung erreichbar, sind aber zu gering, um die Ziele der Energiestrategie 2050 zu erfüllen oder einen fairen Beitrag Europas zur Beschränkung der Klimaerwärmung um 2° C zu liefern; Fortschritte hinsichtlich des Einsatzes erneuerbarer Energieträger werden dadurch getrübt, dass die Investitionen in erneuerbare Energie in der EU zwischen 2011 und 2013 wieder von rund 80 Mrd. € auf 40 Mrd. € gesunken sind.

Österreich zählt zu den erfolgreicheren Ländern, das ehrgeizige Ziel einer Steigerung der Beschäftigungsquote auf 77% bis 78% könnte erreicht werden, schon 2013 lag die Quote mit 75,5% über dem EU-Ziel, und sie wird auch 2014 steigen. Die Zahl der von Armut und Ausgrenzung Betroffenen sank zwischen 2008 und 2013 um rund 130.000, etwas mehr als die Hälfte der angestrebten Reduktion bis 2020. Zusätzliche Anstrengungen sind angesichts der ungünstigeren Wachstumserwartungen notwendig. Der Anteil der Schulabbrecher wurde wie geplant gesenkt. Hinsichtlich des Anteiles erneuerbarer Energie wird Österreich sein Ziel erreichen, hinsichtlich der Steigerung der Energieeffizienz wird das Ziel bisher deutlich verfehlt. Die Treibhausgasemissionen wurden nicht verringert, sondern nahmen zu. Die Forschungsausgaben liegen in Österreich nahe dem EU-Ziel, das eigene Ziel von 3,76% des BIP, das eine Annäherung an die Spitzenländer bringen sollte, wird derzeit aber um fast 1 Prozentpunkt verfehlt. Tatsächlich stagniert die F&E-Quote seit drei Jahren.

Die neue Europäische Kommission hat folgerichtig einen Neustart für Wachstum und Arbeitsplätze angekündigt, u. a. durch ein Programm, das die öffentlichen und privaten Investitionen in den nächsten drei Jahren um zusammen 300 Mrd. € erhöhen soll. Die Jugendarbeitslosigkeit soll gesenkt werden, für die Steigerung der Energieeffizienz sollen ehrgeizigere und verbindlichere Ziele festgelegt werden. Die EU soll sich als führende Wirtschaftsregion im Einsatz bei erneuerbarer Energie etablieren; für Reformprogramme in Krisenländern ist die Einrichtung einer Evaluierung der sozialen Folgen geplant.

Seit dieser Absichtserklärung sind drei Monate vergangen, und die Dringlichkeit des Kurswechsels könnte nicht größer sein. Mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50% wird die EU wieder in eine Rezession zurückfallen (definiert als "Rückgang der Wirtschaftsleistung über zwei Quartale"). Eine lange Diskussion über die Aufbringung der Investitionsmittel und die zu realisierenden Projekte kommt für diesen Konjunkturrückschlag zu spät: ein Investitionsprogramm mit neuen Großprojekten wäre erst Ende 2015 oder Anfang 2016 wirksam.

Eine schnelle Konjunkturstützung wäre gegeben, wenn die EU ungenutzte Mittel aus den Strukturfonds dazu verwendet, genehmigte Projekte stärker zu unterstützen (höherer EU-Finanzierungsanteil gegen das Versprechen, die Projekte zu beschleunigen). Ebenso sollte der Druck auf die Mehrzahl der Länder erhöht werden, die noch keine Vorgaben zur Verringerung der Jugendarbeitslosigkeit eingereicht haben. Eine Anhebung der Energiestandards für den Wohnbau und Anreize, die Sanierung von privaten und öffentlichen Gebäuden in den nächsten neun Monaten vorzuziehen, würden ebenfalls die Phase bis zum Wirksamwerden der Investitionsprogramme überbrücken helfen und könnten von der Europäischen Investitionsbank finanziert werden. Generell sollte die Nutzung von EU-Programmen nicht nur in der Verantwortung der Länder liegen, die Kommission sollte auf ihre Nutzung drängen und dabei administrative Hilfe anbieten.

Rasche Entscheidungen über einen Kurswechsel auf EU-Ebene können die Zuversicht der Investoren und Konsumenten heben. Die Kostenbelastung des Faktors Arbeit sollte koordiniert gesenkt werden. Kreditvergabe und Eigenkapitalbildung für junge und kleine Unternehmen sollten erleichtert werden. Eine Besteuerung von Finanztransaktionen und Maßnahmen gegen Steuerflucht und -verschiebung könnten sowohl zur Finanzierung der Investitionsprogramme als auch zur Entlastung der Realwirtschaft beitragen. Betriebsgründungen sollten erleichtert, administrative Prozesse beschleunigt und vereinfacht werden.

Weiters wären soziale Ziele und Verteilungsziele in das Europäische Semester einzubeziehen und der Fiskalpakt durch einen Sozialpakt zu ergänzen. Ökologische Innovationen würden Europa zu einem Vorreiter in der Umwelttechnologie machen und Exportchancen öffnen. Die kurzfristige Aufgabe der neuen Europäischen Kommission ist es daher, den drohenden Rückfall in die Rezession zu verhindern. Mittelfristig (in den kommenden fünf Jahren) sollte die EU den Zielen der Strategie "Europa 2020" möglichst nahe kommen, etwa durch die Vorgabe, jährlich ein Viertel des Rückstandes gegenüber den Zielvorgaben durch nationale Reformprogramme auszugleichen. Langfristig ist es wichtig, eine Strategie zu entwickeln, mit der die EU in einer globalisierten Weltwirtschaft, in der der Anteil der Industrieländer zurückgeht, dynamisch und erfolgreich sein kann. Die wenngleich geringeren Wachstumsraten müssen verstärkt zur Steigerung der Wohlfahrt (etwa gemessen an den Beyond-GDP-Indikatoren) genutzt werden, ökologische Standards und eine aktivierende Sozialpolitik können zum Erfolg entscheidend beitragen.

 

 

 

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