Zwazl: Verborgene Talente erkennen und fördern

 

erstellt am
03. 06. 15
11.00 MEZ

Enquete des Bundesrats diskutiert Möglichkeiten der Verbesserung von Berufs- und Bildungschancen Jugendlicher
Wien (pk) - Der Zugang zu Bildung und Beruf sind lebensbestimmende Schlüsselfragen für junge Menschen. Angesichts eines schwierigen und im raschen Wandel befindlichen wirtschaftlichen Umfelds stellt besonders das Anwachsen der Gruppe Jugendlicher und junger Erwachsener, die keine Schule besuchen, keiner Arbeit nachgehen und sich nicht in beruflicher Ausbildung befinden ("Not in Education, Employment or Training - NEET") eine Herausforderung an die Politik dar. Für PolitikerInnen und ExpertInnen bot sich am 02.06. im Rahmen der parlamentarischen Enquete des Bundesrats "Schlummernde Talente: Perspektiven für Jugendliche und junge Erwachsene (NEETs)" Gelegenheit, sich über die Aufgaben der Arbeitsmarktpolitik und die Angebote für Jugendliche und junge Erwachsene auszutauschen. Eröffnet wurde die Enquete von Bundesratspräsidentin Sonja Zwazl. Weitere Einleitungsreferate hielten Sozialminister Rudolf Hundstorfer, Staatssekretär Harald Mahrer und Mario Steiner vom Institut für Höhere Studien (IHS).

Zwazl: Enquete soll "Weckruf für Talente" sein
"Jeder junge Mensch verfügt in diesem oder jenem Bereich über besondere Begabungen" zeigte sich Bundesratspräsidentin Sonja Zwazl in der Eröffnungsrede zur Enquete überzeugt. Viel zu oft würden jedoch Begabungen von den Jugendlichen selbst und ihrem Umfeld einfach übersehen, mit schwerwiegenden Folgen für ihr Selbstbewusstsein und ihr weiteres Leben. Sie hoffe, dass aus der Veranstaltung ein Weckruf für unerkannte und verborgene Talente und damit für diese jungen Menschen entstehe, sagte Zwazl.

Die Politik und letztlich die gesamte Gesellschaft dürften nicht tatenlos zusehen, wenn junge Menschen völlig aus dem Rahmen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens fallen, forderte Zwazl. Das nicht nur deshalb, weil die Folgekosten für unser Sozialsystem enorm seien und Jugendliche, die ihren Weg nicht finden, zum Risikofaktor für die gesamte Gesellschaft werden könnten. "Nicht zusehen dürfen wir vor allem, weil jeder einzelne Mensch wertvoll ist. Die Würde des Menschen ist unteilbar", unterstrich Zwazl. Daher dürfe niemand zurückgelassen werden.

Hundstorfer: Allen Achtzehnjährigen einen formalen Bildungsabschluss ermöglichen
Sozialminister Rudolf Hundstorfer leitete sein Statement mit der Feststellung ein, dass sich heute für Menschen ohne formalen Bildungsabschluss kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt bieten. Österreich unternehme deshalb viel, um nachträgliche Qualifizierungen zu ermöglichen. Einen neuen Ansatz versuche man mit dem Jugend- bzw. Lehrlings-Coaching. Hier gehe es darum, zu verhindern, dass es zum vorzeitigen Abbruch einer Ausbildung kommt. Für das Programm, das jährlich 30.000 Jugendliche erreicht, wende man pro Jahr 25 Mio. € auf. In den zwei Jahren seiner Laufzeit sei es bereits gelungen, die Zahl der frühzeitigen Schulabbrüche nachweislich zu senken, hob Hundstorfer hervor.

Der Sozialminister erläuterte auch das Projekt der Regierung, eine Ausbildungsverpflichtung bis zum 18. Lebensjahr einzuführen. Damit soll sichergestellt werden, dass alle Jugendlichen mehr als einen Pflichtschulabschluss erwerben. Diese Verpflichtung enthalte auch ein Recht auf Ausbildung, betonte der Minister. Als Beginn ist das Schuljahr 2016/17 geplant.

Mahrer: Nationaler Schulterschluss für das Bildungssystem ist notwendig
Staatssekretär Harald Mahrer nahm den derzeit ablaufenden tiefgreifenden wirtschaftlichen und technologischen Wandel zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Das Bildungssystem stehe angesichts der enormen Dynamik dieser Entwicklung vor riesigen Herausforderungen, sagte er. Derzeit sei das österreichische Schulsystem eindeutig nicht in der Lage, Talente ausreichend zu erkennen und zu fördern. Dazu müsse man im Bereich der frühkindlichen Förderung und der Elementarpädagogik ansetzen. Nur darauf können weiteren Schritte im Bildungssystem aufbauen, unterstrich Mahrer. Er halte deshalb eine tertiäre Ausbildung zumindest eines Teils der ElementarpädagogInnen für erstrebenswert.

Der Staatssekretär rief zu einem nationalen Schulterschluss für das Bildungssystem auf. Die Talentförderung müsse ganz neu gedacht werden. Er hoffe, dass eine sachlichen Diskussion über alle aktuellen Fragen des Bildungssystems entstehe, sagte Mahrer.

Steiner: Soziale Selektivität des österreichischen Schulsystems vermindern
Mario Steiner (IHS) erläuterte die Ergebnisse einer 2013 von der Universität Linz durchgeführten Studie über NEET-Jugendliche in Österreich. Der Umfang des Problems könne aufgrund neuer Daten besser als bisher erfasst werden. Statt den bisher geschätzten 7-8 % oder 45.000 frühen BildungsabbrecherInnen bei den 15- bis 24-Jährigen liege das Problem eher in der Größenordnung von 12 % bzw. 128.000 Personen. Es handle sich um ein vor allem städtisches Problem und betreffe überdurchschnittlich Jugendliche mit Migrationshintergrund. Der fehlende Abschluss wirke sich in weiterer Folge auf die Chancen am Arbeitsmarkt aus und münde oft in sozialer Ausgrenzung. Eine reine Verlängerung der Schulpflicht sei nicht die Antwort, da die oft sehr individuellen Gründe für einen fehlenden Abschluss dadurch nicht beseitigt würden, meinte Steiner. In Österreich habe man sehr lange mit einem "defizitorientierten Kompensationsansatz" in Form von Angeboten zur Nachqualifizierung reagiert. Das Angebot sei sehr breit, allerdings teilweise unkoordiniert. Steiner sah den Ansatz, der im Jugend-Coaching zum Ausdruck kommt, als vielversprechend. Auch das Konzept des Lebenslangen Lernens der EU sei ein richtiger Ansatz, doch fehle es hier an budgetärer Ausstattung und Strukturen.

Steiner sah drei Handlungsfelder, um das Problem des frühzeitigen Bildungsabbruchs in den Griff zu bekommen. Als erstes sei es notwendig, die starke soziale Selektivität, die das österreichische Schulsystem aufweise, durch verschiedene Maßnahmen zu steigern. Dazu zähle auch die gemeinsame Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen. Weiters müsse die Effektivität des Schulsystems gesteigert werden. Für Steiner ist eine der Bedingungen dafür eine weitreichende Schulautonomie. Als Drittes gelte es, eine politisch ernstgemeinte Strategie gemeinsam mit allen Stakeholdern zu entwickeln. Das schließe auch eine ausreichende Budgetierung ein.

   

Regierung will Ausbildung bis 18 verpflichtend machen
Vor welchen Herausforderungen arbeitslose Jugendliche ohne Ausbildung stehen, was das für den heimischen Arbeitsmarkt bedeutet und wie das Bildungswesen gegensteuern kann: diesen Fragen widmeten sich eingehend die ExpertInnen bei der Enquete des Bundesrats "Schlummernde Talente: Perspektiven für Jugendliche und junge Erwachsene (NEETs)" . Einig waren die RednerInnen, zur Verbesserung der Zukunftschancen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen brauche es vor allem eine gute Bildung, die für den Arbeitsmarkt qualifiziert und zielgerichtet Stärken fördert.

"AusBildung bis 18"-Initiative soll 2016 starten
"Alle unter 18-jährigen sollen nach Möglichkeit eine über den Pflichtschulabschluss hinausgehende Ausbildung abschließen", zitierte Sonja Schmöckel vom Sozialministerium (BMASK) aus dem aktuellen Regierungsprogramm. Neun Jahre Schulbildung würden einfach für die bestehenden Anforderungen am Arbeitsmarkt nicht mehr ausreichen. Unter dieser Maxime setzte die Bundesregierung gemeinsam mit Ländern, Gemeinden, Sozialpartnern und Arbeitsmarktservice (AMS) die Initiative "AusBildung bis 18" um, beginnend mit den PflichtschulabsolventInnen im kommenden Schuljahr und im Vollausbau ab 2016/2017. Ein Gesetzesentwurf dafür befinde sich derzeit in Ausarbeitung. Entsprechend den Interessen und Bedürfnissen jeder/s Einzelnen würden den jungen Menschen in Kooperation mit den Schulen schon frühzeitig verschiedene Angebote gemacht, skizzierte die Expertin für Arbeitsmarktförderung: vom Besuch einer höheren Schule, der Absolvierung einer dualen Ausbildung oder einer reintegrativen arbeitsmarktpolitischen Maßnahme bis hin zur Teilnahme an einem Programm für Jugendliche mit besonderem Unterstützungsbedarf. "Junge Menschen, die keinen über die Pflichtschule hinausgehenden Abschluss verfügen, haben ein dreifaches Arbeitslosigkeitsrisiko", brachte Schmöckl die Problematik auf den Punkt. Ein Fünftel dieser Personengruppe sei armutsgefährdet. Finanzielle Sanktionen sollen laut Schmöckel möglichst vermieden werden, wenn Minderjährige nicht an der Ausbildungsinitiative teilnehmen, weil dadurch "Personen zusätzlich belastet wären, die ohnehin sozial schwächer sind, und eine Verhaltens-und Bewusstseinsänderung damit kaum verbunden sein würde". Strafzahlungen wären somit erst "gegebenenfalls am Ende eines langen Unterstützungsprozesses" anzudenken.

Wie berufliche und soziale Re-Integration konkret aussehen kann, beschrieb Sebnem Ertl, Direktorin der Produktionsschule Leonding bei Linz. Diese Einrichtung des Berufsförderungsinstitut bfi ermögliche jungen Menschen zwischen 16 und 24 Jahren, "die maximal einen Pflichtschulabschluss vorweisen können", erste Schritte in Richtung geregelter Berufsausbildung zu setzen. Psychosoziale Betreuung auf freiwilliger Basis und fachliche Begleitung durch FachtrainerInnen gingen an der Produktionsschule bei der handwerklichen und persönlichen Entwicklung der Jugendlichen, die zu 75% Migrationshintergrund haben, Hand in Hand. Kontaktschwierigkeiten zwischen Schulteam und TeilnehmerInnen bzw. deren Eltern gebe es aufgrund der unterschiedlichen Migrationsbiographien der BetreuerInnen kaum, so Ertl. Nicht nur die Aneignung theoretischen Wissens stehe im Fokus des pädagogischen Konzepts, sondern auch die Integration als respektvoller Umgang mit verschiedenen Kulturen, Denkweisen und Werten. "Die Jugendlichen sollen fähig sein, ihr Leben selbstbestimmt und eigenverantwortlich meistern zu können", betonte die im Vorjahr als Integrationsbotschafterin Ausgezeichnete, deren Eltern als Arbeitsmigranten in den 1960er Jahren aus der Türkei eingewandert waren.

Näher auf die psychosoziale Dimension von Arbeitslosigkeit in jungem Alter ging Allgemeinmediziner Dieter Schaufler ein. "Sinngebende Arbeit" nannte der Präsident der Österreichischen Gesellschaft für tiergestützte Therapie und Leiter des Zentrums Mauritiushof im Waldviertel als bestes Mittel, arbeitslose Jugendliche aus dem Gefühl der Wertlosigkeit herauszuführen. Der Mauritiushof biete als echter landwirtschaftlicher Betrieb jungen Leuten ohne Perspektive jene "Unterstützung zur Selbsthilfe", die sie benötigten, um eigenverantwortlich über ihr Fortkommen zu entscheiden. Bedeutend seien dabei der geregelte Tagesablauf, abgestimmt auf die artgerechte Versorgung der Tiere und Erfolgserlebnisse in der Arbeit sowie die Vermittlung von sozialen Kompetenzen wie "Teamfähigkeit" durch professionelle BegleiterInnen.

Bildungssystem als Sprungbrett in die Arbeitswelt
Österreich habe zwar im EU-Vergleich eine relativ geringe Zahl an SchulabbrecherInnen und dank der dualen Berufsausbildung ein gutes Instrument gegen Jugendarbeitslosigkeit, räumte Johannes Kopf, Vorstand des Arbeitsmarktservice (AMS), ein. Doch biete der heimische Arbeitsmarkt für jene, die keinerlei Abschlüsse besitzen, kaum Möglichkeiten beruflich Fuß zu fassen. "In den letzten 24 Jahren ist die Arbeitslosenquote von Personen mit maximal Pflichtschulabschluss von 9% auf rund 24% gestiegen, hat sich also mehr als verdoppelt!" zeigte er auf und folgerte, vor allem das Bildungssystem sei hier gefragt. Erst nach Ende der Schulpflicht mit arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen anzusetzen, um "ausgrenzungsgefährdete Jugendliche" bei der gesellschaftlichen Integration zu unterstützen, sei oftmals zu spät. Anzusetzen sei am besten schon bei der frühkindlichen Erziehung, um nachhaltig sozial bedingte Chancenungleichheiten auszuräumen, hielt der AMS-Chef fest.

Welche Lösungen die Wirtschaft in Sachen Ausbildungs- und Berufswahl anbietet, beschrieb Peter Zeitler, Vorstand der WKO-Abteilung für Bildungspolitik. Mit kostenlosen Angeboten der Berufsorientierung bemühe sich die Wirtschaftskammer Österreich (WKO) um eine "stärkere Verankerung der Berufsinformation in den Schulen", erklärte er. Immerhin sei die Wirtschaft als Betreiberin der Lehrstellen ein Garant für das duale System der Berufsausbildung und habe großes Interesse an gutqualifizierten Fachkräften. Positiv vermerkte Zeitler, mit der Lehrplannovelle für allgemeinbildende höhere Schulen werde auch in den AHS-Unterstufen ab dem Schuljahr 2016/2017 eine verpflichtende Unterrichtsstunde Berufsorientierung eingeführt; jedoch brauche es insbesondere an den Schnittstellen am Ende der Schulpflicht bzw. der Sekundarstufe II festgelegte Mindeststandards, auf die hinzuarbeiten ist, denn "in allen Bildungsbereichen soll anstatt einer negativen Auslese die optimale Förderung und Entwicklung aller Talente und Potentiale im Vordergrund stehen".

Um verfrühte Bildungsabbrüche zu verhindern, zog Arbeiterkammer-Bildungsexperte Richard Meisel nach, müsse bei Leistungsschwächen und häufigen Fehlstunden in der Schule möglichst bald interveniert werden. Einige Modelle dafür gebe es bereits – etwa "Stop Dropout Programme" an berufsbildenden höheren Schulen oder niederschwellige Maßnahmen wie die von Ertl beschriebenen Produktionsschulen. Nötig sei aber noch ein Ausbau der Berufsorientierung an der 9. Schulstufe, meinte er ähnlich wie Zeitler, und eine stärkere Mitwirkung der Schulen, Schulabbruch bei ihren SchülerInnen zu verhindern. Kooperation und Vernetzung zwischen Schulsozialarbeit, Jugendcoaching, LehrerInnen und Schulpsychologie würden sich hier positiv auf die weiteren Bildungsverläufe auswirken: "Vor allem bildungsbenachteiligte Gruppe profitieren überproportional von der verbesserten Zusammenarbeit", zeigte sich Meisel überzeugt.

Zum leichteren Einstieg in die Arbeitswelt bedürfe es neben einer gezielten Berufsorientierung in der Klasse einer umfassenderen schulischen Förderung, bestätigte Christian Morawek vom Österreichischen Verband der Elternvereine an öffentlichen Pflichtschulen, der in diesem Zusammenhang auch eine Lanze für qualitativ hochwertige Elementarbildung ab dem 1. Lebensjahr brach. Er sieht überdies die zielführendste Möglichkeit zur Förderung der SchülerInnen in ganztägigen Schulen, vor allem in der verschränkten Form, da sie im Vergleich zu klassischen Halbtagsschulen kostenlose Stütz- und Förderkurse in einem vertrauten Umfeld an Stelle teurer Nachhilfe böten. Ein Manko im heimischen Bildungswesen ist für Morawek auch "die frühe Trennung der Bildungswege" nach der 4. Schulstufe, da eine Fehlentscheidung im Alter von 10 oftmals zu einer "Unlust zu lernen" führe.

Eigene Ziele zu definieren und zu verfolgen, diese Fähigkeit müsse die Schule Jugendlichen vermitteln, damit sie selbstverantwortliche Bildungs- und Berufsentscheidungen in einer immer komplexer werdenden Arbeitswelt treffen, resümierte Andrea Fraundorfer, im Bildungsministerium zuständig für Begabungs- und Begabtenförderung sowie Reduktion der Schulabbrecherquote. Die "AusBildung bis 18"-Initiative sei hier neben dem Ausbau ganztätiger Schulformen und eines sensiblen Umgangs der Schulstandorte mit potentiellen SchulabbrecherInnen eine wichtige Maßnahme. "Prävention, Intervention und Kompensation", diese Strategien müssten im Bildungswesen ineinandergreifen, um die vielfältigen Risikofaktoren für einen Schulabbruch – von gesundheitlichen Einschränkungen bis zum sozioökonomischen Milieu – bestmöglich auszugleichen.

 

 

 

Allgemeine Informationen:
http://www.parlament.gv.at

 

 

 

 

 

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