Das Wissen des Körpers entschlüsseln

 

erstellt am
29. 12. 15
11:00 MEZ

Wien (pr&d) - Mit Unterstützung des Wissenschaftsfonds FWF untersucht Michael Kimmel von der Universität Wien, wie Interaktion und Improvisation funktionieren. Damit ist der Kognitionswissenschafter komplexen Mechanismen des Zusammenspiels von Körper und Kompetenz auf der Spur. Tango ist mehr als nur ein Tanz. Er steht für Leidenschaft und Sinnlichkeit, für Zweisamkeit und ausdrucksvolle Improvisation. Es geht dabei um Führen und Folgen, um das Spüren und um Körperbewusstsein. Doch was genau passiert im Körper bei dieser Art der Interaktion und wie funktioniert es? Wie ist es beispielsweise möglich, im richtigen Moment improvisatorisch den richtigen Schritt zu setzen und folglich eine gute Entscheidung zu treffen?

Denken und fühlen
Diesen Fragen stellt sich der Kognitionswissenschafter Michael Kimmel. Mit Unterstützung des Wissenschaftsfonds FWF entwirft er mit der Methode der empirischen Phänomenologie eine Theorie von Fertigkeiten zur Interaktion und Improvisation und leistet damit Pionierarbeit für die Grundlagenforschung. Konkret untersucht Kimmel die Fähigkeiten der Interaktion von Experten ebenso wie Lernenden in den Disziplinen Tango Argentino und "Contact Improvisation", in Aikido, Shiatsu und Feldenkrais. Denn im Paartanz, Kampfsport und in der Körperarbeit treffen die Anforderungen des kontinuierlichen Kontakts und der Mikrokoordination mit Anforderungen des Improvisierens zusammen. - Wichtige Aspekte für das Zusammenspiel von Körper und kognitiver Kompetenz.

Kognitive Grundlagen von Interaktion
Seit einigen Jahren wächst dementsprechend auch das Forschungsinteresse an dieser Art der zwischenmenschlichen Koordination. Im Hirnscanner kann etwa beobachtet werden, wie sich Gehirne synchronisieren, während sie interagieren. Wissen über Interaktion wird unter anderem in der Mensch-Computer-Beziehung eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Im beruflichen Kontext nimmt es bereits heute einen großen Stellenwert ein, wenn es zum Beispiel um Situationsbewusstsein in herausfordernden Tätigkeiten wie bei der Katastrophenhilfe oder in der Chirurgie geht. Doch Messungen alleine reichen nicht aus, um solche hochkomplexen Vorgänge zu beschreiben. "Es gibt bis heute wenige subjektive Zugänge", erklärt der ausgebildete Kognitionslinguist Kimmel, "aber das Interesse für sozialwissenschaftliche Methoden in der Kognitionswissenschaft wächst."

Inventarisierung impliziten Wissens
Um den vielschichtigen Mechanismen impliziten Wissens auf die Spur zu kommen, hat Kimmel ein Team von Forscherinnen und Forschern zusammengestellt, die auch Erfahrung in jeweils einer der Disziplinen haben. Dabei legte das Team einen Fokus auf aktives Spüren des eigenen und anderen Körpers, auf situativ angepasste Handlungsstrategien in Echtzeit und die für beides nötige Selbststrukturierung. In Interviews und mit Methoden des "Laut-Denkens" haben sie ganz gezielt erhoben, was die Personen im Körper spüren, wo sie es spüren, wie sowohl die Selbst- als auch Außenwahrnehmung ist und was an Folgehandlungen geplant wird, beziehungsweise welche Optionen wahrgenommen werden. "Wir haben die Erfahrung der Personen in 'mikrogenetische' Stückchen zerkleinert. Die Herausforderung dabei ist, Fragen zu formulieren, die uns etwas über das körperliche Wissen sagen und wobei man nicht ins Denken kommt, sondern gezielt in sich hinein fühlt", erklärt Kimmel. Dabei würden sich Strukturen des impliziten Wissens offenbaren, die bei Expertinnen und Experten "im Körper verschwunden" sind. "Wir gehen davon aus, dass es kognitive Grundlagen dieser halb- oder unterbewussten Strukturen gibt. Diesen Baukasten an Basisfertigkeiten wollen wir hervorholen und beschreiben."

Faktoren für gelungene Interaktion
Fundamental für Reaktionen in Echtzeit, wie auch für flüssiges Handeln - und damit für soziales Verhalten -, seien eine geschulte Aufmerksamkeit und sogenannte Mechanismen der "schlauen Wahrnehmung", erklärt Kimmel. Letzteres bedeutet die Fähigkeit zu besitzen, sehr rasch beziehungsweise auf einen Blick, oder etwa auch durch ein kurzes Greifen, die Logik einer Disziplin zu erfassen. Zudem würde ein Repertoire an Techniken wie zum Beispiel Schritte, Rotationen oder Griffe das Material bilden, aus dem sich improvisiertes Handeln speist, so die Ergebnisse des Forschungsprojekts. Und wie in jeder komplexen Körperfertigkeit beeinflusst auch die Präsenz einer Person ihr Gegenüber. Faktoren für eine gelungene Interaktion sind daher auch das "Vorkalibrieren" von Blick, Haltung oder Muskelspannung. "Personen, die sich um ihren Part kümmern, zum Beispiel durch eine gute Aufrichtung, beeinflussen unmittelbar auch ihr Gegenüber positiv, seine Handlungsbereitschaft und die Kommunikation insgesamt", betont Kimmel.

Körperliches Wissen findet breite Anwendung
Neben der Entschlüsselung des Körperwissens liefert das Forschungsprojekt einen zusätzlichen Nutzen. So lassen sich die Frage-Methoden, bei denen sich die Forscherinnen und Forscher unter anderem der Imagination bedienen, auch auf andere Bereiche übertragen, wie zum Beispiel den Wissenstransfer bei sportlichen, handwerklichen oder therapeutischen Fertigkeiten. Denn Wissen wird in vielen Bereichen nach wie vor nicht explizit weitergegeben. "Unsere Forschung stellt ein analytisches Handlungswerkzeug für unterschiedliche 'Communities of Practice' zur Verfügung, wo sich ähnliche Grundfragen stellen", erklärt Kimmel. Es gehe letztlich auch darum, Begriffe wie Intuition oder Kreativität zu hinterfragen, so der Wissenschafter. Und schließlich, ist Kimmel überzeugt, wer Prinzipien einer Körperdisziplin verstehe, verändere auch den Blick. "Wissen über improvisatorische Körperfertigkeiten erleichtert den strukturierten Umgang mit Unvorhergesehenem. Das wäre übrigens eine interessante weitere Forschungsfrage."

 

 

 

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