Schatzsuche in Kurrent: Senioren-Teams
 helfen beim Lesen

 

erstellt am
29. 01. 16
11:00 MEZ

Hagenauer initiiert Kurrentgruppen in Seniorenwohnhäusern
Salzburg (stadt) - Der Wandel unserer Zeit macht sich besonders in der Sprache und der Schrift deutlich. Während die Kinder heutzutage mit Smartphone und Tablet-PC aufwachsen, haben die Älteren noch die Kurrentschrift in der Schule gelernt. Aus der jüngeren Generation kann heute kaum jemand mehr diese alte Handschrift entziffern. Auch unter den Bekannten oder in der Familie gibt es immer weniger Kundige. Aber viele SeniorInnen beherrschen nach wie vor dieses Wissen. „Ein Potenzial das keinesfalls ungenutzt bleiben darf“, meint die ressortverantwortliche Vizebürgermeisterin Anja Hagenauer.

„Aus diesem Grund gibt es nun in den städtischen Seniorenwohnhäusern sogenannte ‚Kurrentgruppen‘, also BewohnerInnen, die die alte Handschrift noch lesen und schreiben können. Sie freuen sich darauf ihr Wissen mit anderen zu teilen und helfen gerne beim ‚Übersetzen‘ von alten Texten“, so Hagenauer bei einem Pressegespräch am Donnerstag, 28. Jänner 2016. „Wir wollen die SeniorInnen aktivieren und sie voll ins Leben einbinden. Wissen abzurufen und weiter zu geben ist das beste Gedächtnistraining. Dazu kommen neue soziale Kontakte. Das ist auch präventiv für beginnende Demenz. Darum machen wir dieses Projekt auch im Rahmen der Demenzfreundlichen Stadt Salzburg.“

Liebesbriefe von Opa wieder lesbar
Alle SalzburgerInnen sind herzlich eingeladen auf Schatzsuche zu gehen: Liebesbriefe von Opa und Oma, Tagebücher aus Kriegszeiten, Uromas Kochbücher oder sonstige Dokumente haben viele zuhause. Wenn sie nicht mehr „lesbar“ sind, dann kontaktiert man die fachkundigen BewohnerInnen der städtischen Seniorenwohnhäuser in den Stadtteilen Itzling, Liefering, Hellbrunn, Nonntal und Taxham. Somit können sich die SalzburgerInnen an das jeweilige Haus in ihrer Nähe wenden, um einen Termin mit den Kurrent-ExpertInnen zu vereinbaren. Derzeit sind pro Seniorenwohnhaus drei bis fünf Personen in einer Kurrentgruppe.

„Das persönliche Gespräch, das gemeinsame Lesen und Transkribieren der Kurrenttexte ermöglicht einerseits einen Einblick in vergangene Zeiten, andererseits führt es zu einem Erfahrungsaustausch, von dem beide Seiten profitieren. Nicht nur die BesitzerInnen der Zeitdokumente freuen sich. Das Schöne ist, dass ein Projekt wie dieses verschiedene Generationen zusammenbringt“, freut sich Ernst Hörzing, Leiter der städtischen Senioreneinrichtungen.

Fähigkeiten der „old generation“ nutzen
„Die Einführung der Kurrentgruppen ist eine sehr gute Initiative, um das Wissen der SeniorInnen wertzuschätzen und zu zeigen über welche Kompetenzen sie verfügen. Nachdem wir im Jahr 2016 das Thema Demenz zu einem Schwerpunkt in der städtischen Sozialpolitik machen, sind Projekte wie diese sehr willkommen“, meint Anja Hagenauer, „da werden die SeniorInnen positiv gefordert.“

Auch Andrea Sigl, Leiterin des Seniorenwohnhauses Hellbrunn, weiß: „In unseren BewohnerInnen schlummern wahre Talente und wertvolle Fähigkeiten, die sonst verloren gehen würden. Das Engagement in der Kurrentgruppe macht den SeniorInnen sichtlich Spaß und sie widmen sich einer sinnvollen Aufgabe. Sie tauschen sich mit den anderen aus und freuen sich den Jüngeren helfen zu können.“

Einblick in vergangene Zeiten
Irma Buchner, Mitglied der Kurrentgruppe im Seniorenwohnhaus Hellbrunn, ist noch mit der Kurrentschrift aufgewachsen. Die alte Handschrift heute wieder zu lesen erinnert sie an ihre eigene Kindheit. „Wir haben die Schwünge und Schnörkel der Kurrentschrift noch mit Griffel an der Tafel erlernt. Für heutige Volksschulkinder ist das unvorstellbar“, so die rüstige 90-Jährige schmunzelnd. Obwohl ihre Schulzeit schon lange zurückliegt, beherrscht sie Kurrent heute noch und stellt sich zur Verfügung, um ihre Schriftkenntnisse mit anderen zu teilen.

Auch wenn die Kurrentschrift heute nicht mehr genutzt wird, so hat sie doch ihre Spuren hinterlassen. In nahezu jedem Haushalt finden sich Postkarten, Dokumente, Bücher und Briefe aus vergangenen Jahrzehnten. So ist das Entschlüsseln der Kurrentschrift nicht nur für HistorikerInnen oder BibliothekarInnen interessant, sondern für alle, die Interesse an Geschichte haben und sich gerne mit alten Texten oder auch mit der der eigenen Familienchronik auseinandersetzen.

Stadtarchiv an privaten Texten interessiert
Das Angebot zum gemeinsamen Übersetzen mit den Kurrentgruppen, kann auch von Schulklassen genutzt werden, die im Unterricht mit alten Schriften arbeiten. Auch das Stadtarchiv zeigt großes Interesse an der Arbeit der Kurrentgruppen. Besonders Schriftstücke und Briefe aus Privatbesitz sind von großer Bedeutung, schließlich repräsentieren sie die damalige Schriftkultur und damit einen erheblichen Teil der Alltagsgeschichte. Mit Einverständnis der BesitzerInnen der Originale können Kopien davon, zusammen mit ihrer jeweiligen Transkription, in den Bestand „Privatarchivalien“ im Stadtarchiv aufgenommen werden.

„Das Engagement der Kurrent-ExpertInnen sorgt dafür, dass alte Schriftstücke wie auch die Kurrentschrift nicht in Vergessenheit geraten. Häufig haben diese Texte für ihre BesitzerInnen großen ideellen Wert, da ist es schön, diesen auch für die heutigen Generationen aufrechtzuerhalten“, so Hagenauer abschließend.

Basisinfo Kurrent
Im Gegensatz zur Buch- oder Druckschrift (Fraktur) ermöglichte die Kurrentschrift (vom Lateinischen currere = laufen) das zügige Schreiben und wurde vor allem im privaten Gebrauch eingesetzt. Sie zeichnet sich durch spitze Winkel und verschiedene Strichstärken aus. Im 19. und 20. Jahrhundert war sie die gebräuchliche Handschrift in Deutschland und in Österreich und wurde so auch an Schulen gelehrt. Als offizielle Schulschrift wurde sie im Jahr 1941/42 von den Nationalsozialisten abgeschafft und eine einheitliche lateinische Schrift, die „deutsche Normalschrift“ wurde eingeführt. Nach den Kriegsjahren wurde die Kurrentschrift in Österreich wieder unterrichtet, allerdings nur mehr im Kunstunterricht. Als „Schönschreiben“ war sie bis in die 1950er Jahre Bestandteil des Lehrplans.

Im Gegensatz zu anderen Ländern lernen SchülerInnen in Österreich heute noch eine Schreibschrift mit schwungvollen Schleifen und Bögen. In Finnland beispielsweise wird nur noch die Druckschrift gelehrt, außerdem wird bereits in der Volksschule mehr Wert auf das Schreiben auf der Tastatur gelegt. In Zeiten, in denen im Alltag Smartphone, Computer und Tablet-PC dominieren, ist diese Tendenz wenig verwunderlich.

Egal wie man zu dieser Entwicklung steht – die Kurrentschrift ist zweifelsohne ein Kulturgut, das mittlerweile vom Aussterben bedroht ist und dank dieses Projekts wieder mehr Aufmerksamkeit erlangt.

 

 

 

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