Im Auge des Betrachters

 

erstellt am
30. 05. 16
11:00 MEZ

Was Betrachterinnen und Betrachter eines Kunstwerks sehen und empfinden, ist mit ihrer sozio-kulturellen Prägung und der Vertrautheit mit einem Bild verknüpft.
Wien (pr&d) - Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker haben diese Theorie mithilfe psychologischer Methoden nun in einem Projekt des Wissenschaftsfonds FWF empirisch nachgewiesen. Der Einfluss der Kultur auf das Individuum, auf seine Erfahrungen und sein Verhalten beschäftigt die Forschung seit Langem und ist gut belegt. Auch dass das sozio-kulturelle Umfeld die visuelle Wahrnehmung prägt, zeigen Studien. Doch bis vor Kurzem fehlten Untersuchungen aus der kunsthistorischen Forschung, die das "kulturelle Auge" im Blick des Betrachters empirisch belegen konnten.

Die kulturelle Prägung
"Eine zentrale Frage für die Kunstgeschichte ist nach wie vor, inwiefern Sehgewohnheiten und Kunstwerke von der Kultur einer bestimmten Zeit geprägt sind oder auch nicht", erklärt Kunsthistoriker Raphael Rosenberg von der Universität Wien und nennt ein Paradebeispiel der Kunstgeschichte: die stark geometrisch geprägte Malerei der italienischen Frührenaissance im Unterschied zur kalligraphisch orientierten Malkunst der süddeutschen Spätgotik. Die kunsthistorische Forschung spricht hier vom "Period Eye" als Ausdruck dafür, wie kulturelle und soziale Gegebenheiten die Kunst und ihre Betrachterinnen und Betrachter beeinflussen.

Hightech-Kunstforschung
Um diese Thesen empirisch abzusichern, hat sich Rosenberg in einem aktuellen Projekt des Wissenschaftsfonds FWF einer bewährten Methode der Psychologie bedient: den Aufzeichnungen der Blickbewegung. In dem weltweit ersten Eye-Tracking-Labor für Kunstgeschichte, das Rosenberg 2009 von Heidelberg nach Wien übersiedelte, wurde gemeinsam mit Fraunhofer ein Prototyp mit spezieller Software entwickelt, der die Blicke von Betrachterinnen und Betrachtern von Gemälden ohne physischen Kontakt sowohl im Labor als auch im Museum aufzeichnet und auswertet.

Österreich vs. Japan
In Zusammenarbeit mit dem Institut für Psychologische Grundlagenforschung der Uni Wien haben Rosenberg und sein Team in den vergangenen zwei Jahren eine kulturvergleichende Studie durchgeführt. Mit dem Eye-Tracker wurden Daten von jeweils 50 Personen aus Japan und Österreich erhoben, die in den beiden Ländern Gemälde aus unterschiedlichen Epochen und Kulturen betrachteten. Die beiden Nationen unterscheiden sich deutlich in ihrer visuellen Kultur, doch verrät das auch ihr Blick? Die Antwort ist "ja" und "nein". Die Annahme der Forscherinnen und Forscher, dass etwa die Leserichtung eine Rolle bei der Betrachtung eines Bildes spielen könnte, hat sich bis dato nicht bewiesen, wenngleich die Auswertungen noch laufen. "In beiden Gruppen war die Tendenz zu mehr horizontalen Blickbewegungen", sagt Hanna Brinkmann vom Projektteam zu den ersten Ergebnissen. Durch das Internet werde auch in Japan zunehmend horizontal statt von oben nach unten geschrieben, sieht Brinkmann eine mögliche Erklärung dafür.

Analytisch vs. ganzheitlich

Sehr wohl zu bestätigen scheint sich hingegen die unterschiedliche Konzentration auf den Vordergrund beziehungsweise Hintergrund der Bilder, die im Zusammenhang mit der Theorie vom westlich geprägten Individualismus und asiatischen Kollektivismus steht. So hat die japanische Untersuchungsgruppe deutlich ausgeprägter auf den Hintergrund der Bilder fokussiert als die österreichischen Personen, die sich mehr auf Figuren im Vordergrund konzentrierten. Zusätzlich zu den beiden Vergleichsgruppen konnte das Team um Rosenberg auch zahlreiche Daten von Besucherinnen und Besuchern des Kunsthistorischen Museums erhalten, indem vier Wochen lang die Sehgewohnheiten von mehr als 800 Personen zunächst ohne deren Wissen aufgezeichnet und anschließend mittels Fragebogen zusätzlich evaluiert wurden. "Wir versuchen auf der Ebene der Blickbewegung einen Weg zu öffnen, um das 'Period Eye' besser zu fassen und ein Instrumentarium zu erhalten, das historische Unterschiede erklären könnte", erklärt Raphael Rosenberg sein Forschungsinteresse.

Kunst und Gender
Neben kulturellen Prägungen beziehungsweise kollektiven Unterschieden wie Schrift, Geometrie, analytisches oder ganzheitliches Denken, spielen auch Geschlechterbilder eine wichtige Rolle in der visuellen Wahrnehmung. Das Thema "Gender" ist dementsprechend der zweite Fokus des FWF-Projekts. Wie weibliche und männliche Figuren auf die Betrachterinnen und Betrachter wirken und inwiefern wiederum sich der Blick der Frau von dem des Mannes unterscheidet, hat Projektmitglied Mario Thalwitzer anhand der Blickaufzeichnungen im Labor analysiert. Dabei wird untersucht, inwieweit Thesen der Forschung zutreffen, die Männern einen stärker fokussierten Blick und Frauen ein mehr kontextbezogenes Blickverhalten zuschreiben.

Raphael Rosenberg
ist Kunsthistoriker und stellvertretender Vorstand des Instituts für Kunstgeschichte an der Universität Wien. Rosenbergs Forschungsfokus liegt auf der Geschichte der Wahrnehmung und Interpretation von Kunstwerken. Das FWF-Projekt "The Cultural and Gendered Eye" wird in Zusammenarbeit mit dem Psychologen Helmut Leder von der Universität Wien durchgeführt. Rosenberg ist unter anderem auch Mitglied der Forschungsplattform "Cognitive Science"
https://cognitivescience.univie.ac.at

 

 

 

Allgemeine Informationen:
http://kunstgeschichte.univie.ac.at

 

 

 

 

 

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