Bundesrat: In der EU muss sich etwas ändern

 

erstellt am
27. 10. 16
11:00 MEZ

Erklärung des Ersten Vizepräsidenten des Ausschusses der Regionen Karl-Heinz Lambertz
Brüssel/Wien (pk) - Es muss sich etwas ändern, die EU muss neu gedacht werden – so könnte man den Tenor der Diskussion im Bundesrat vom 25.10. zusammenfassen, die der Rolle der Regionen in der europäischen politischen Agenda gewidmet war. Anlass dafür war die Rede des ersten Vizepräsidenten des Ausschusses der Regionen (ADR) Karl-Heinz Lambertz. Die Globalisierung und Digitalisierung stelle die Union vor große Herausforderungen, sagte Lambertz, man brauche mehr Solidarität und auch eine stärkere Sozialunion. Dabei spielen die Regionen eine ganz wichtige Rolle, die Europapolitik müsse einen Brückenschlag zu den Regionen und Städten finden, sie müsse vielmehr rückgekoppelt werden an das, was dort geschieht.

Europa finde nämlich nicht in Straßburg und Brüssel statt, sondern dort, wo die Menschen leben, so Lambertz, der sich dafür stark machte, die Regionen bei der Konzeption und bei der Umsetzung politischer Entscheidungen mehr zu beteiligen. Lambertz kritisierte zudem die starke Überregulierung im Kleinen und die mangelnde Lösungskompetenz der EU bei den großen Problemen. Er verband dabei auch eine Kritik an Politikerinnen und Politiker, die alle Probleme und Fehler der EU zuschieben: "Politik muss zu Europa stehen", unterstrich Lambertz.

Lambertz: Erfolgreiche Regionen sind zu Hause tief verwurzelt und international gut vernetzt
Der Europapolitiker machte sich auch stark für die internationale Vernetzung der Regionen. "Erfolgreiche Regionen sind zu Hause tief verwurzelt und international gut vernetzt", hielt er fest, indem er die Bedeutung der regionale Identitäten für das Lebensgefühl der Menschen im Zeitalter der Globalisierung hervorhob. Die zweiten Kammern stellen für die Regionen besonders wichtige Organe dar, weil hier die Meinungsbildung im Verhältnis zu zentralstaatlichen Entscheidungsprozessen erfolgt.

Lambertz war sich mit den Rednerinnen und Rednern einig, dass Europa derzeit in einer schweren Krise steckt, in einer "Multikrise", wie er es unter Hinweis auf Brexit, die Finanz- und Wirtschaftskrise und die Flüchtlingsproblematik formulierte; dazu kämen die schwierigen Verhältnisse zur Nachbarschaft, wie etwa zur Türkei und Russland, und die Tatsache, dass die gemeinsame Währung geschaffen wurde, ohne die Wirtschafts- und Abgabenpolitik zu integrieren. Die Antwort darauf könne aber nicht heißen, Europa abzuschreiben - auch angesichts der globalen Probleme, die man als Nationalstaat allein nicht bewältigen könne. In diesem Sinne forderte er eine schonungslose Analyse der Schieflage und machte dabei mehrere Entwicklungen dafür verantwortlich: Dazu zähle die Zerbrechlichkeit der europäischen Werte, das Demokratiedefizit und die offenen Fragen der Währungsunion. Die EU sei gleichzeitig ein Riese, was das Regeln von Kleinigkeiten betrifft, aber ein Zwerg bei den großen Herausforderungen, ortete Lambertz einige der wesentlichsten Gründe für die EU-Skepsis. Wenig Verständnis zeigte er auch für eine zu strikte Sparpolitik, die am Ende die Investitionsfähigkeit der Gebietskörperschaften untergrabe.

Für Lambertz steht daher die Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips an vorderster Stelle. Die EU müsse auch die Daseinsvorsorge sicherstellen und eine zukunftsorientierte Investitionspolitik zulassen. Hier würden die Strukturfonds und die Kohäsionspolitik einen wesentlichen Anteil haben, betonte er und hob insbesondere die Notwendigkeit einer gründlichen Folgenabschätzung hervor. Lambertz appellierte in diesem Zusammenhang auch an die Verantwortung der Landtage und Landesregierungen, die die Vielfalt verkörpern und am besten in der Lage seien, die Auswirkungen vor Ort zu beurteilen.

Blockade von CETA durch wallonisches Regionalparlament - Akt der Demokratie oder mangelnde Solidarität
Die Debatte über die Rolle der Regionen konnte am heutigen Tag nicht aktueller sein, nachdem das wallonische Regionalparlament in Belgien die Unterzeichnung von CETA bislang verhindert. CETA nahm daher schon aus diesem Grund bei vielen Rednerinnen und Rednern einen breiten Raum ein. So hinterfragte etwa Klaus Fürlinger (V/O), ob es tatsächlich einen Akt der Demokratie darstelle, wenn eine Region die gesamte EU überstimmt, und sein Fraktionskollege, der Vorsitzende des EU-Ausschusses Edgar Mayer (V/V), sprach von mangelnder Solidarität. Kanada gehe es um ein Freihandelsabkommen und sei der EU noch in der letzten Phase weit entgegen gekommen, gab Mayer zu bedenken. Im wallonischen Regionalparlament würden nun nationale Probleme mit den europapolitischen vermengt.

Es sei keine Schande, wenn ein Teil der EU zu einem Abkommen Nein sagt, warf Stefan Schennach (S/W) aus seiner Sicht in die Diskussion ein. Für ihn ist das gelebte Demokratie, und die EU wäre gut beraten, mehr auf die Diskussion in den nationalen Parlament zu hören. Ähnlich äußerte sich Inge Posch-Gruska (S/B), die sich vor allem für die Absicherung der Daseinsvorsorge stark machte. Ebenso kritisierte Monika Mühlwert (F/W), dass die EU ihren Bürgerinnen und Bürgern nicht zuhöre, und das betreffe sowohl die Migrationsfrage als auch CETA. Den Menschen gehe es um hohe Umwelt und Sozialstandards sowie um die Nahrungsmittelsicherheit, und die EU ignoriere vollkommen, dass die Regionen in großer Zahl gegen CETA seien. Allein in Österreich hätten sich 400 Städte und Gemeinden dagegen ausgesprochen. Heidelinde Reiter (G/S) erinnerte an den Beschluss der Landeshauptleute, an dem sich nichts geändert habe.

Lambertz selbst warnte davor, CETA scheitern zu lassen. Das wäre seiner Meinung nach eine folgenschwere Neuorientierung der EU-Handelsbeziehungen. Es gehe um Fundamentales, gab er zu bedenken, denn ein Europa, das mit dem Rest der Welt nicht mehr in Handelsbeziehungen eintritt, werde Probleme anhäufen und noch unwichtiger in der Welt werden. Der Europapolitiker räumte jedoch ein, dass es nicht gelungen sei, alle Beteiligten ausreichend miteinzubeziehen. Er wollte aber nicht allein der EU-Kommission die Schuld geben, sondern warf auch allen Beteiligten vor, sich zu spät damit beschäftigt zu haben.

Europa braucht neue Entscheidungsprozesse
Die Frage stelle sich daher, wie in Zukunft die Entscheidungsprozesse laufen, um auch ein entscheidungsfähiges Europa zu haben. Das gelte nicht nur für Handelsabkommen sondern Beispielsweise auch für die Flüchtlingspolitik, resümierte Lambertz. Diesem Befund schlossen sich auch viele andere RednerInnen an. So hielt Edgar Mayer (V/V) ein Europa der Regionen mit moderner Subsidiarität, verbunden mit Herz und Verstand, für eine notwendige Zielrichtung. Europa befinde sich derzeit in einer großen Krise, was Identifikation, Subsidiarität und Solidarität anbelangt, sagte er und sprach sich in diesem Zusammenhang auch für eine Stärkung des Europaparlaments und des Ausschusses der Regionen aus.

In gleicher Weise muss nach Ansicht von Klaus Fürlinger (V/O) Europa neu gedacht werden, um der Gefahr zu entgehen, in Partikularinteressen zu zerfallen. Im Vordergrund habe das Wohl der Allgemeinheit zu stehen, nicht aber die Interessen einzelner Lobbyisten. Fürlinger erteilte auch einer allzu starken ideologischen Diskussion eine Absage, da damit der Blick auf das Ganze verlorengehe. Die Regionen sieht er als einen wesentlichen Identifikationsfaktor, den man hegen und pflegen müsse, gleichzeitig sei zu beachten, dass darüber auch eine europäische Wertekultur steht.

Es gibt keine Alternative zu Europa, die EU ist aber nur so stark wie ihre Regionen, bekannte sich Inge Posch-Gruska (S/B) zu einer aktiven Europapolitik. Als einen wesentlichen Grund für die Europaskepsis nannte sie die mangelnde europäische Sozialpolitik. Man habe es nicht geschafft, ein Gleichgewicht zwischen der Wirtschaftspolitik und einem sozialen Europa zu erreichen, mahnte sie mehr soziales Engagement ein. Dem schloss sich Stefan Schennach (S/W) vollinhaltlich an und kritisierte scharf die Sparpolitik, die die Wirtschaftsentwicklung und die Sicherung der Arbeitsplätze in den Städten, Regionen und Gemeinden erwürge.

Schennach machte sich für einen innereuropäischen Föderalismus und das Subsidiaritätsprinzip stark und gab gleichzeitig klar zu verstehen, dass die Duldung von Steuerparadiesen keineswegs mit Föderalismus gleichgesetzt werden dürfe. Zugleich machte er auf die große Bedeutung der Ballungsräume aufmerksam. Sie seien der Motor der Entwicklung, hier passiere mehr als in manchen Nationalstaaten, so Schennach.

Für den ehemaligen Kärntner Landeshauptmann und nunmehrigen Bundesrat Gerhard Dörfler (F/K) braucht man in der EU mehr Zuversicht, mehr Vertrauen in die Regionen, mehr Menschlichkeit und ein soziales Europa. Die Menschen wollen bei ihren Wurzeln bleiben und in der Region leben könne, ergänzte seine Klubkollegin Monika Mühlwerth (F/W), daher benötige man dort Arbeitsplätze und eine ausreichende Kinderbetreuung.

Dörfler verlangt vor allem eine Antwort Europas auf die Globalisierung, denn diese verunsichere die Menschen. Europa könne heute sein Wohlstandsversprechen nicht mehr einlösen, es zähle das Geld, der Mittelstand komme unter die Räder, die kleinen und mittleren Unternehmen würden durch Kontrollen und Steuern ersticken, fasste er seine Sorgen zusammen. Das Hauptproblem sieht Dörfler vor allem in der hohen Jugendarbeitslosigkeit und der damit verbundenen Perspektivenlosigkeit. Zudem komme die österreichische kleinstrukturierte Landwirtschaft unter Druck der Agrarindustrie. Laut Dörfler ist es daher verständlich, dass das Misstrauen gegen den Zentralismus und die Freihandelsabkommen groß ist.

Auch die grüne Bundesrätin Heidelinde Reiter (G/S) hält eine neue "Governance" für unumgänglich. Der Fehler liegt ihr zufolge in einem System, das Menschen ausgrenzt, die an Lösungen mitarbeiten möchten, womit auch die demokratische Akzeptanz nicht erreicht werde. Menschen mit Empathie lasse man viel zu oft ins Leere laufen, kritisierte sie und appellierte, die Innovationskraft der Menschen in allen Bereichen zu nützen. Dazu brauche es entsprechende Räume und Gremien, sagte sie.

Mit einem ganz konkreten Beispiel für eine notwendige Mitsprache der Regionen meldete sich Nicole Schreyer (G/T) zu Wort. Im Europaparlament steht nämlich an diesem Tag ein Antrag zur Abstimmung, bei dem es um den Ausbau der Autobahn von Venedig nach Lienz geht. Dagegen habe es bereits in den 90er Jahren massive Proteste gegeben, der Bau dieser Autobahn stehe im Gegensetz zur Alpen-Konvention, würde den Brenner- Basis-Tunnel konterkarieren und die betroffenen Regionen massiv mit Verkehr überschwemmen. Dies sie ein Beispiel dafür, wo Regionen agieren müssen, so Schreyer – Regionen müssen für die Menschen da sein und sich nach oben hin für die Subsidiarität stark machen.

 

 

 

Allgemeine Informationen:
http://www.parlament.gv.at

 

 

 

zurück

 

 

 

 

Die Nachrichten-Rubrik "Österreich, Europa und die Welt"
widmet Ihnen der
Auslandsösterreicher-Weltbund

 

 

 

Kennen Sie schon unser kostenloses Monatsmagazin "Österreich Journal" in vier pdf-Formaten? Die Auswahl finden Sie unter http://www.oesterreichjournal.at