EU will sozialer werden

 

erstellt am
22. 06. 17
13:00 MEZ

EU-Ausschuss des Bundesrats diskutiert Vorschläge der Kommission zur Schaffung einer Säule sozialer Rechte
Brüssel/Wien (pk) - Soziale Themen standen am 21.06. am Beginn des EU-Ausschusses des Bundesrats. So regt die EU-Kommission an, eine Säule sozialer Rechte einzuführen und hat dazu zwei Dokumente - eine Mitteilung als Empfehlung sowie einen gleichlautenden Vorschlag für eine interinstitutionelle Proklamation des Parlaments, des Rates und der Kommission - vorgelegt. Die Schaffung einer integrativeren und faireren Union stelle für sie eine zentrale Priorität dar, unterstreicht die Kommission. Damit im Zusammenhang steht auch der Richtlinienentwurf zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige.

Die Vorschläge wurden weitgehend begrüßt - teilweise uneingeschränkt als ein Schritt in Richtung Sozialunion, teilweise aber auch verhaltener. Grundsätzliche Bedenken gegen eine Säule sozialer Rechte gibt es nicht, wie Ausschussvorsitzender Edgar Mayer (V/V) feststellte. Auch wenn die Länder Kritik daran üben, dass sich die EU in nationalstaatliche Kompetenzen einmischt, hätten sie doch festgestellt, dass die Pläne mit dem Prinzip der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit vereinbar seien. Stefan Schennach (S/W) kann die Vorschläge seitens der SPÖ uneingeschränkt unterschreiben, wie er sagte, und wies in diesem Zusammenhang auf den Artikel 9 des Lissabon-Vertrags hin, der die EU zur Durchführung sozialer Ziele verpflichtet. Heidelinder Reiter (G/S) begrüßte ebenfalls den Vorstoß, meinte aber, dass die Detailregelungen etwa zum Vaterschaftsurlaub weit weg von jenen großen sozialen Verwerfungen seien, mit denen die EU konfrontiert ist. Kritisch äußerte sich Hans-Jörg Jenewein (F/W), der die Frage nach der Finanzierung in den Raum stellte. Auch seitens der ÖVP brachte Eduard Köck (V/N) finanzielle Bedenken ein.

Die Expertin des Sozialministeriums wies im Ausschuss darauf hin, dass die Vorlage allgemeine Prinzipien zum Inhalt habe und weder an den Kompetenzen der Mitgliedstaaten noch an der Autonomie der Sozialpartner gerüttelt werde. Die Säule sozialer Rechte habe einen empfehlenden Charakter und stelle keine rechtlich verbindliche Vorgabe dar.

Soziale Fortschritte sollen in das Europäische Semester für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik einfließen
Die europäische Säule sozialer Rechte umfasst drei Hauptkategorien: Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang, faire Arbeitsbedingungen sowie Sozialschutz und soziale Inklusion. Konkret werden 20 zentrale Grundsätze und Rechte zur Unterstützung gut funktionierender und fairer Arbeitsmärkte und Sozialsysteme festgelegt. Diese betreffen: allgemeine und berufliche Bildung und lebenslanges Lernen, Gleichstellung der Geschlechter, Chancengleichheit, aktive Unterstützung für Beschäftigung, sichere und anpassungsfähige Beschäftigung, Löhne und Gehälter, Informationen über Beschäftigungsbedingungen und Kündigungsschutz, sozialer Dialog und Einbeziehung der Beschäftigten, Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben, gesundes, sicheres und geeignetes Arbeitsumfeld und Datenschutz; ferner die Betreuung und Unterstützung von Kindern, Sozialschutz, Leistungen bei Arbeitslosigkeit, Mindesteinkommen, Alterseinkünfte und Ruhegehälter, Gesundheitsversorgung, Inklusion von Menschen mit Behinderungen, Langzeitpflege, Wohnraum und Hilfe für Wohnungslose sowie Zugang zu essenziellen Dienstleistungen.

Die Säule ist als Leitfaden für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen in Europa angelegt, deren Umsetzung stellt einen dynamischen Prozess dar, betont die Kommission. Der Vorschlag richtet sich in erster Linie an den Euro-Raum, steht aber allen EU-Mitgliedstaaten offen.

Wie die EU-Kommission weiter anmerkt, soll die Säule neue und wirksamere Rechte für Bürgerinnen und Bürger gewährleisten. Mit den Vorschlägen wolle man heutigen und künftigen Realitäten gerecht werden, wird in den Dokumenten der Kommission betont. Dies vor allem vor dem Hintergrund, dass trotz jüngster Verbesserungen der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in Europa die Folgen der Krise des vergangenen Jahrzehnts weiter deutlich spürbar bleiben und von Langzeit- und Jugendarbeitslosigkeit bis zu Armutsrisiken in weiten Teilen Europas reichen. Gleichzeitig seien alle Mitgliedstaaten mit den schnellen Veränderungen in Gesellschaft und Arbeitswelt konfrontiert.

Mit dieser Initiative werden wesentliche - bereits im Primärrecht bzw. in der EU-Grundrechtecharta sowie in der Europäischen Sozialcharta verankerte - soziale Rechte zusammengefasst und um aktuelle bestehende Initiativen der EU ergänzt. Die Kommission schließt aber im Sinne der Wirksamkeit einiger in der Säule festgehaltener Grundsätze und Rechte weitere gesetzgeberische Initiativen nicht aus, gegebenenfalls werde bestehendes Unionsrecht aktualisiert, ergänzt und besser durchgesetzt.

Die Verwirklichung der in der europäischen Säule sozialer Rechte festgeschriebenen Grundsätze und Rechte liegt in der gemeinsamen Verantwortung von Mitgliedstaaten, EU-Institutionen, Sozialpartnern und sonstigen Akteuren. Die europäischen Institutionen würden ihren Beitrag dazu leisten. Geplant ist, wie die Kommission in einer Pressemitteilung vom 26. April dieses Jahres festhält, die Einrichtung eines sozialpolitischen Scoreboards, mit dem Tendenzen und Leistungen der EU-Länder in zwölf Bereichen erfasst werden, um die Fortschritte der gesamten EU in Richtung des angestrebten sozialen "AAA-Ratings" zu bewerten. Diese Analyse soll in das Europäische Semester für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik einfließen. Im November ist ein Sozialgipfel zum Thema faire Arbeitsplätze und Wachstum in Göteborg geplant.

Differenzierte Meinung der BundesrätInnen
Uneingeschränkt unterstützt wird der Vorschlag seitens der SPÖ. Stefan Schennach (S/W) wies auf die Notwendigkeit hin, dass die EU einen Schritt in Richtung Sozialunion macht und erinnerte an zahlreiche soziale Problembereiche, denen sich die EU stellen müsse. Das seien die prekären Arbeitsverhältnisse, Lohndumping, die Kluft zwischen Einkommen und Vermögen und die Digitalisierung. Dem schloss sich seine Fraktionskollegin Ingrid Winkler (S/N) vollinhaltlich an. Es gehe derzeit schlicht und einfach um die essenzielle Frage, ob die EU eine Gemeinschaft der BürgerInnen oder eine Wirtschaftsunion sein will, sagte sie. Wird die soziale Komponente vernachlässigt, dann werde es keine Akzeptanz der EU geben, so Winkler.

Für die Grünen stellt die Säule sozialer Rechte einen ersten zögernden Schritt in Richtung der Sozialunion dar, was zu begrüßen sei, stellte Heidelinde Reiter (G/S) fest. Ihr zufolge ist es notwendig, den Fokus auf die Sozialunion zu legen, auch angesichts der tiefgreifenden sozialen Verwerfungen, die es innerhalb der EU gibt. Sie hält es aber im Hinblick auf das Armutsgefälle für wenig sinnvoll, seitens der EU Detailregelungen vorzuschreiben. Dass die Armut in Europa eines der gravierenden Probleme darstellt, unterstrich auch Stefan Schennach (S/W). Er machte aber darauf aufmerksam, dass die EU zur Armutsbekämpfung viele Instrumente habe.

   

Vorsichtig positiv äußerten sich die Vertreter der ÖVP. Grundsätzlich seien das Zielsetzungen und Regelungen, die sich alle wünschen, meinte Eduard Köck (V/N), das Ganze müsse nur bezahlt werden. Man müsse auch aufpassen, dass die Schere zwischen UnternehmerInnen, die Arbeitsplätze schaffen, und den Rechten der ArbeitnehmerInnen nicht allzu weit auseinanderklaffe. Denn dann werde es bald niemanden mehr geben, der Arbeitsplätze schafft, so Köck. Die Frage der Finanzierung stellte auch sein Fraktionskollege Ferdinand Tiefnig (V/O).

Ins gleiche Horn stieß Hans-Jörg Jenewein (F/W), für den der Umbau in eine Sozialunion mit deren Finanzierung verbunden ist. Er hält daher die Vorlage für weit überschießend und meinte, dass man damit in eine Umverteilungsdebatte gerate. Umverteilung könne es aber nur geben, wenn etwas erwirtschaftet wird, sagte er.

Unterstützt wurde der Vorstoß der EU auch seitens des im Ausschuss anwesenden Vertreters der Arbeiterkammer, da diese in den Inhalten und Prinzipien eine Stärkung der Arbeitnehmerrechte und der sozialen Sicherheit sieht. Die Arbeitnehmervertretung drängt auf einen grundlegenden Kurswechsel in der Wirtschafts- und Fiskalpolitik und darauf, ein soziales Europa zu stärken. Weniger glücklich sind sie mit den Forderungen der EU nach Arbeitszeitflexibilisierung, da diese ihrer Ansicht nach in keiner Weise zu einer Stärkung der Arbeitsnehmerrechte führt.

EU drängt auf bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben – manche Vorschläge gehen dem Bundesrat zu weit
Mit der Säule sozialer Rechte ist der Richtlinienentwurf zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige zu sehen. Er zielt vor allem darauf ab, der Unterrepräsentation von Frauen im Berufsleben zu begegnen und ihre berufliche Laufbahn zu unterstützen – etwa durch einen besseren Zugang zu Urlaubsregelungen und flexiblen Arbeitsregelungen. Auch sollte eine verstärkte Inanspruchnahme von Urlaub aus familiären Gründen und flexible Arbeitsregelungen durch Männer forciert werden. Damit soll dem Grundsatz der Gleichstellung von Frauen und Männern hinsichtlich der Chancen auf dem Arbeitsmarkt und der Behandlung am Arbeitsplatz zum Durchbruch verholfen werden.

Das Sozialministerium begrüßt grundsätzlich die Maßnahmen und hebt positiv hervor, dass neben der Kinderbetreuung auch einheitliche Mindeststandards für ArbeitnehmerInnen im Pflegebereich geschaffen werden sollen. Dennoch gibt es seitens des Ressorts einige Anmerkungen zu den Vorschlägen.

Konkret soll nach Vorstellung der EU-Kommission der Vater anlässlich der Geburt eines Kindes einen Anspruch auf mindestens 10 Arbeitstage Vaterschaftsurlaub haben, wobei es einen solchen Anspruch in der Privatwirtschaft derzeit in Österreich nicht gibt.

Eine weitere Forderung betrifft einen individuellen nicht übertragbaren Anspruch auf Elternurlaub von mindestens 4 Monaten. Dieser soll bis zum 12. Geburtstag des Kindes konsumiert werden können. Das Sozialministerium sieht diesen Ansatz kritisch, zumal die Rechtslage in Österreich einen Anspruch auf Elternurlaub bis zum 2. Lebensjahr des Kindes vorsieht. Nimmt ein Elternteil allerdings den gesamten Elternurlaub in Anspruch, dann hat der zweite Elternteil keinen Anspruch darauf.

Der Anspruch auf Pflegeurlaub pro Jahr soll nach der EU-Kommission mindestens 5 Arbeitstage betragen, was der österreichischen Regelung entsprechen würde. Die finanzielle Abgeltung in all den genannten Fällen soll in Höhe des Krankengeldes erfolgen.

Auch gibt es in Österreich – wie von der EU-Kommission ins Auge gefasst - bereits eine Arbeitsfreistellung im Falle höherer Gewalt aus dringenden familiären Gründen, bei Erkrankung oder Unfall in Form der Pflegekarenz bzw. Sterbebegleitung von nahen Angehörigen und Begleitung schwersterkrankter Kinder.

Schließlich schlägt die Kommission vor, ArbeitnehmerInnen mit Kindern bis mindestens 12 Jahren sowie pflegenden Angehörigen das Recht auf flexible Arbeitsregelungen für Betreuungs- und Pflegezwecke einzuräumen. Dazu merkt das Sozialministerium an, dass bereits derzeit die Möglichkeit besteht, Elternurlaub in Form einer Elternteilzeit bis zum 7. Lebensjahr des Kindes zu konsumieren. Auch im Pflegebereich können ArbeitnehmerInnen in Österreich derzeit Pflegeteilzeit zur Pflege bzw. Betreuung naher Angehöriger vereinbaren bzw. Sterbebegleitung in flexibler Form in Anspruch nehmen. Österreich präferiert hinsichtlich einer weiteren Ausdehnung grundsätzlich andere flexible Arbeitsregelungen, wie z.B. Telearbeit.

Hintergrund für die EU-Initiative ist, dass die Kommission eine unzulängliche Politik im Bereich der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben ortet. 2015 betrug laut vorliegendem Dokument innerhalb der EU die Beschäftigungsquote für Frauen (20-64 Jahre) 64,3% gegenüber einer Beschäftigungsquote für Männer von 75,9%. Der geschlechtsspezifische Unterschied bei der Beschäftigung ist bei Eltern und Personen mit sonstigen Betreuungs- und Pflegepflichten am stärksten ausgeprägt. Die Beschäftigungsquote für Frauen mit einem Kind unter 6 Jahren lag 2015 im Durchschnitt um fast 9% unter der für Frauen ohne Kleinkinder, in einigen Ländern betrug diese Differenz sogar mehr als 30%. Frauen übernehmen auch viel häufiger als Männer die Rolle einer informellen Pflegeperson für ältere oder pflegebedürftige Angehörige. Bei Frauen ist zudem die Wahrscheinlichkeit, dass sie wegen Betreuungs- und Pflegepflichten einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen, weitaus größer. Dies trägt wesentlich zu einem geschlechtsspezifischen Lohngefälle bei (in einigen Mitgliedstaaten beträgt es bis zu 28%), das sich im Laufe des Arbeitslebens zu einem geschlechtsspezifischen Rentengefälle akkumuliert (im Durchschnitt 40% in der EU), weshalb Frauen vor allem im Alter stärker von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht sind.

Die Debatte im Ausschuss kreiste vor allem um den Vaterschaftsurlaub, wobei Ana Blatnik (S/K) dafür einen Rechtsanspruch einforderte. Das Recht auf Chancengleichheit in Erziehung, Pflege und Arbeitswelt habe Priorität, sagte Blatnik, Erziehungsarbeit sei auch Vatersache. Die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben müsse für Mutter und Vater gleichermaßen möglich sein. In ihrer Forderung erhielt sie volle Unterstützung durch Stefan Schennach (S/W), der betonte, in Österreich sei im Hinblick auf den Vaterschaftsurlaub keineswegs alles paletti. Die Sorge von Edgar Mayer (V/V), die Vorschläge der EU könnten in das historisch gewachsene System in Österreich eingreifen, widerlegte die Vertreterin des Sozialressorts mit den Hinweis, dass die EU ein sehr flexibles System vorlegt, wodurch das heimische System nicht in Frage gestellt werde. Auch seien in diesem Bereich die Vorschriften in Europa äußerst heterogen.

 

 

 

Allgemeine Informationen:
https://www.parlament.gv.at

 

 

 

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