Rede von Bundespräsident Alexander Van der Bellen

 

erstellt am
12. 03. 18
13:00 MEZ

"Wenn die Zahl derer, die Zeugnis ablegen können ständig abnimmt, gerade dann ist die Auseinandersetzung mit dieser dunklen Vergangenheit unseres Landes uns Pflicht und Verpflichtung"
Wien (hofburg) - Bundespräsident Alexander Van der Bellen hielt anlässlich des Gedenkens an den 12. März 1938 eine Gedenkrede. Lesen Sie diese hier im Wortlaut:

Das Ende Österreichs – 1938 - kam nicht überraschend.

Als in der Nacht vom 11. auf den 12. März deutsche Truppen die Grenze zu Österreich überschritten, wurde für die einen eine Hoffnung erfüllt, für die anderen eine bange Befürchtung Gewissheit.

Es war der Schlussstrich unter ein verzweifeltes, unbeholfenes und teilweise halbherziges Ringen, die Eigenständigkeit Österreichs zu erhalten.

Mit diesem Schlussstrich öffnete sich gleichzeitig das Tor zu Enteignung, Verschleppung, Gewaltexzessen, Folter, Krieg und industriellem Massenmord.

Das dunkelste Kapitel in der Geschichte unseres Landes wurde aufgeschlagen.


Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Vielen Dank, dass Sie heute in die Wiener Hofburg gekommen sind, um gemeinsam der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Österreich zu gedenken.

Wir tun dies im Bewusstsein, dass auch 80 Jahre nach den damaligen Ereignissen unsere ganze Aufmerksamkeit gefordert ist, wenn wir begreifen wollen, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte.

Wie die niedrigsten Gefühle und Regungen von den Herzen der Menschen Besitz ergreifen konnten; wie Nachbarn zu „Volksfeinden“, wie Väter zu Massenmördern werden; wie Menschen gleichzeitig Mozart hören und den Gashahn aufdrehen konnten.


Die deutsche Wehrmacht kam über Nacht.

Nicht über Nacht kam die Verachtung für die Demokratie, kamen Militarismus, Intoleranz und Gewalt.

Sie hatten sich schleichend in Österreich eingenistet.

Es war eine kontinuierliche Aushöhlung von Humanismus und Rechtsstaatlichkeit; ein politisches und gesellschaftliches Multiorganversagen, ausgelöst durch die Krankheiten:

steigende politische Polarisierung,

weltanschauliche Unversöhnlichkeit,

Rassismus

und Antisemitismus.

Und genau deswegen, sehr geehrte Damen und Herren, weil der 12. März 1938 eine Vorgeschichte hat, und letztlich den Kulminationspunkt einer katastrophalen Entwicklung darstellt, genau deswegen müssen wir auch heute noch genau hinsehen wie es so weit kommen konnte und entschlossen unsere Lehren daraus ziehen.

Die Lehre, dass auch Demokratien anfällig für Populismus und Demagogie sind.

Die Lehre, dass Diskriminierung ein erster Schritt zu Entmenschlichung ist.

Die Lehre, dass Rassismus und Antisemitismus nicht einfach verschwinden, sondern auch heute im Kleinen wie im Großen weiter existieren.

Die Lehre schließlich, dass es wichtig ist, rechtzeitig die Stimme zu erheben - klar und unmissverständlich - und gegen jede menschenverachtende Ideologie aufzustehen.

Und daher sind wir Alle gefordert, Sie und ich, unsere Sinne zu schärfen, und zu versuchen wachsam und sensibel die allfälligen Zeichen an der Wand zu erkennen.


Meine Damen und Herren!

Österreich hat Mitverantwortung für die Gräueltaten des Nationalsozialismus.

Österreicherinnen und Österreicher waren nicht nur Opfer, sondern auch Täterinnen und Täter, oft in führenden Positionen.

Österreich hat sich – mitunter sehr spät – zu dieser Verantwortung bekannt und wird dies auch in Zukunft tun. Darum verbeugen wir uns in Demut vor allen Opfern des Nationalsozialismus.

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren!

1945 haben viele gesagt: Die Nazivergangenheit könne noch nicht aufgearbeitet werden, jetzt müsse der demokratische Neuanfang in Angriff genommen werden. Das Eingestehen von Schuld und die Aufarbeitung kämen zu früh.

Heute sagen manche, wir sind doch schon viel zu weit entfernt von den damaligen Ereignissen. Viele, ja die allermeisten von uns, waren damals doch noch gar nicht geboren. Es braucht keine Aufarbeitung mehr.

Dann stellt sich allerdings die Frage: Wann wäre denn der richtige Zeitpunkt, um sich mit dem schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte auseinanderzusetzen?


Wann?

Die Antwort ist ganz einfach: gestern, heute und morgen!

Denn es gibt keine Entschuldigung für selbstverschuldete Unwissenheit für Wegschauen, für historische Ignoranz, oder gar für Relativierungen. Dass man „das Alles ja so gar nicht wissen konnte“, das haben wir schon zu oft gehört.

Heute können wir wissen. Deswegen sollen und müssen wir uns dieses Wissen aneignen. Und wir dürfen die Augen, die Ohren nicht verschließen.


Sehr geehrte Damen und Herren!

Österreich steht zu seiner Verantwortung.

Österreich wird daher die Erinnerung an die Schrecken von Nationalsozialismus, Krieg, Verfolgung und Holocaust wachhalten.

Wir haben aus der Geschichte gelernt und wir werden diese Lehre an kommende Generationen weitergeben.

Gerade, wenn das Elend von Krieg und Totalitarismus nicht mehr aus eigenem Erleben bezeugt werden kann; wenn die Zahl derer, die Zeugnis ablegen können ständig abnimmt, gerade dann ist die Auseinandersetzung mit dieser dunklen Vergangenheit unseres Landes uns Pflicht und Verpflichtung.

Es mag stimmen, dass die Geschichte sich nicht wiederholt.


Das bedeutet jedoch nicht, dass Lehren aus ihr ein für allemal gezogen wären, dass die Achtung der Menschenrechte und der Menschenwürde ein abgesichertes Gemeingut wäre.



Meine Damen und Herren!

Es gibt, und darauf möchte ich besonders am heutigen Tag hinweisen, in Österreich auch eine Tradition der Courage und des Charakters.

Menschen, die große Bürden und Gefahren auf sich genommen haben, um anderen zu helfen;

Menschen die aufgestanden sind, wenn andere sich nicht getrauten;

Menschen, die Widerstand geleistet haben;

Menschen, die auch in schwierigen Zeiten Mitmenschlichkeit und Haltung bewiesen haben.


Sie können und sollen uns heute als Vorbild dienen.

Ich sage dies besonders in Richtung Jugend. Einer Jugend, die erfreulicherweise im Frieden aufgewachsen ist; deren Maxime nicht das Gehorchen, sondern das kritische Hinterfragen sein soll. Deren Handlungen nicht durch das blinde Befolgen von Befehlen, sondern durch humanistische Werte legitimiert sein sollen.

Deswegen kann es auch nicht darum gehen, unsere Werte einer offenen, demokratischen Gesellschaft nur zu verteidigen.


Nein.

Wir müssen sie, ganz im Gegenteil, ausbauen, stärken und immer fester im Selbstverständnis jeder und jedes Einzelnen verankern.

Selbstbewusst und selbstbestimmt, weltoffen und solidarisch, friedliebend und tolerant.

Das ist das Bild, dem sich Österreich verpflichtet sieht.

Unsere Kinder und Kindeskinder werden - so hoffe ich - dieses Bild weiter mit Leben erfüllen und in die Zukunft tragen.


Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich möchte Sie nun ersuchen, sich von den Plätzen zu erheben und mit mir still der Opfer des Nationalsozialismus gedenken.


Ich danke Ihnen.

     

Allgemeine Informationen:
http://www.bundespraesident.at

 

 

 

 

 

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