Europas Städte: Wien zeigt Wege aus der Krise auf

 

erstellt am
04. 12. 18
13:00 MEZ

Ludwig/Gaal: Bezahlbarer Wohnraum als Mangelware in der EU; Stadt Wien als „Role Model“ im internationalen Vergleich
Brüssel/Wien (rk) - Was tun gegen die akute Wohnungskrise in Europas wachsenden Städten? Wie können Investitionen in bezahlbaren Wohnraum wieder angekurbelt werden? Wege aus dem Engpass zeigt die internationale Konferenz „Housing for All – Affordable Housing in Growing Cities in Europe“ auf, die am 4. und 5. Dezember in Wien stattfindet. Rund 300 Teilnehmende aus 36 Ländern sind bei Wiener Wohnen zu Gast.

„Städte sind der Motor der europäischen Entwicklung, zwei Drittel der EU-Bevölkerung leben in Städten. Damit haben Städte eine entscheidende Bedeutung für das europäische Integrationsprojekt. Und sie sind es auch, die ganz besonders gefordert sind, wenn es um die Bewältigung globaler Herausforderungen, um den sozialen Zusammenhalt und die wirtschaftliche Entwicklung geht. Städte brauchen daher entsprechende Rahmenbedingungen – vor allem auch, um die Investitionen in bezahlbaren Wohnraum zu steigern“, so Wiens Bürgermeister Michael Ludwig.

„Denn der freie Markt wird niemals breite Schichten der Bevölkerung mit bezahlbarem Wohnraum versorgen. Dazu braucht es die Politik. Die ‚Städtepartnerschaft Wohnen‘ im Rahmen der EU Urban Agenda hat konkrete Gesetzesvorschläge für die EU-Kommission ausgearbeitet, die heute in Wien präsentiert werden und die es nun umzusetzen gilt. Jetzt ist die EU-Gesetzgebung am Zug – und damit die Europäische Kommission, alle EU-Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament. Europa muss jetzt handeln und Maßnahmen gegen Fehlentwicklungen auf den Wohnungsmärkten in Europa setzen“, so Ludwig.

Mehr als 220 Millionen Haushalte gibt es in der EU – und ganze 82 Millionen EuropäerInnen können sich das Wohnen mittlerweile nicht mehr leisten. Denn die Wohnungspreise und Mieten in den Städten der EU steigen seit Jahren rasch und massiv. Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 sind die Investitionen in bezahlbares und soziales Wohnen zurückgegangen – es wird nur mehr halb so viel investiert wie davor. Die EU-Task Force für Investitionen in soziale Infrastruktur in Europa nennt einen Rückgang um 20 Prozent und schätzt die Investitionslücke beim leistbaren Wohnraum auf rund 57 Milliarden Euro pro Jahr. Da laut OECD der Großteil (53 Prozent) der öffentlichen Investitionen auf subnationaler Ebene erfolgt, sind Städte besonders betroffen.

Wohnen als Menschenrecht
„Wohnen ist ein Menschenrecht – keine Ware“, betont Leilani Farha, seit 2014 UN-Sonderbeauftragte für das Recht auf Wohnen. Die kanadische Anwältin und Aktivistin präsentiert bei der Konferenz ihre Initiative „Make the Shift“, mit der Kommunen und Stadtverwaltungen geholfen werden soll, umgehend auf die Negativ-Entwicklung zu reagieren. „Das Tempo und das Ausmaß, in dem Finanzunternehmen und -fonds Wohnungen und Immobilien übernehmen und in den Städten Unleistbarkeit, Verdrängung und Obdachlosigkeit verursachen, ist erschütternd. Der Wohnungsbau ist ein Schlüsselthema im 21. Jahrhundert“, sagt Farha. „Städte sind Triebkräfte in einer Volkswirtschaft. Es ist im Interesse aller Regierungsebenen, zusammenzuarbeiten, um angemessenen und erschwinglichen Wohnraum zu gewährleisten, um das zu schützen, was Städte groß macht: Vielfalt und Inklusion.“ Leilani Farha ruft die Kommunalverwaltungen dazu auf, sich zur „Cities for Adequate Housing Declaration“ zu bekennen.

EU-Städtepartnerschaft Wohnen fordert nachhaltig wirksame Maßnahmen
Mit dem Ziel, Städte im Politikgestaltungsprozess der EU zu stärken, wurde 2016 in Amsterdam durch den Rat der EU die „Städteagenda für die EU“ ins Leben gerufen. Die Konferenz „Housing for All“ bildet den Abschluss der EU Urban Agenda – Housing Partnership (Städtepartnerschaft Wohnen).

Durch die Bildung von Partnerschaften zu konkreten Schwerpunktthemen – u. a. Wohnen, Luftqualität, städtische Armut und Integration von MigrantInnen und Flüchtlingen – sollen Städte stärker an der EU-Politikentwicklung beteiligt werden. Dazu dient ein neues Format der Zusammenarbeit auf europäischer Ebene, bei dem Städte, Mitgliedsstaaten, EU-Institutionen sowie themenspezifischen Stakeholder-Organisationen auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Jede Partnerschaft legt nach einem Arbeitszeitraum von drei Jahren einen Maßnahmenkatalog vor, der zu besserer Regulierung, besserer Finanzierung und besserem Wissensmanagement beiträgt. Mit der Wahl eines Politikfelds, in dem die EU keine formale Kompetenz besitzt, nämlich dem Wohnungswesen, hat der Rat die Bedeutung des bezahlbaren Wohnens für die EU und ihre BürgerInnen anerkannt und eingeräumt, dass EU-Regelwerke großen Einfluss auf die lokalen und nationalen Wohnungssysteme haben können.

Die Partnerschaft zum Thema Wohnen hat sich daher in den letzten drei Jahren intensiv mit den Herausforderungen des bezahlbaren Wohnens beschäftigt. Der nun vorliegende Maßnahmenkatalog umfasst eine Reihe von bereits umgesetzten Ergebnissen – wie z. B. Studien der Wohnungssituation in den alten und neuen EU-Mitgliedstaaten, eine Datenbank für gute Wohnprojekte, eine ausführlichen Analyse des Beihilfenrechts und eine Broschüre zu städtischen Lösungen für wohnungspolitische Felder. Darüber hinaus beinhaltet er Empfehlungen an den EU-Gesetzgeber, insbesondere zur Schaffung von mehr Investitionsspielräumen für Städte.

Mehr Investitionsspielraum: EU-Beihilfenrecht reformieren, Europäisches Semester anpassen
Warum ist es für viele europäische Städte so schwierig, wenn es um Investitionen in leistbaren Wohnraum geht? Der Großteil der Finanzierung für soziales, öffentliches und leistbares Wohnen kommt aus Förderungen auf nationaler und lokaler Ebene – und von den NutzerInnen. Aber die europäische Gesetzgebung hat massive Auswirkungen – konkret über das EU-Beihilfenrecht und über die europäischen Fiskalregeln.

Bei der Konferenz in Wien wird die langjährige Forderung von vielen Ländern, Städten, gemeinnützigen Wohnungsunternehmen und Mieterschutzverbänden nach einer Änderung im EU-Beihilfenrecht unterstrichen: Die Beschränkung der Zielgruppen von gefördertem Wohnraum auf ausschließlich „benachteiligte Bürgerinnen und Bürger oder sozial schwächere Bevölkerungsgruppen“ soll endlich gestrichen werden.

Städte und Länder sollen in Zukunft nach dem Subsidiaritätsprinzip selbst entscheiden können, wie sie bezahlbaren Wohnraum für ihre Bürgerinnen und Bürger organisieren. Die jetzige Bestimmung sorgt seit Jahren für enorme Rechtsunsicherheit und führt immer wieder zu Klagen und Beschwerden bei den Gerichten. Letztlich hat sie zur Folge, dass ganze Wohnbauförderungssystem unter Beschuss geraten sind, wie in den Niederlanden, Schweden oder Frankreich. Und sie verhindert Investitionen in dringend notwendige Sanierungen, etwa in den neuen Mitgliedstaaten.

Auch das bestehende Regelwerk des Europäischen Semesters kann langfristige öffentliche Investitionen in die Errichtung von bezahlbarem Wohnraum wesentlich erleichtern. Die Städtepartnerschaft zeigt auf, dass die Investitionsklausel, die das möglich machen könnte, aufgrund der Komplexität der Verfahren gerade von Städten noch viel zu wenig genutzt wird – hier sind Erleichterungen nötig.

Langfristig geht es den Städten darum, dass die Investitionen in notwendige städtische Infrastruktur in Zukunft in den Fiskal- und Defizitregeln der EU nicht als mehr als Schulden, sondern als Investitionen mit einem Gegenwert betrachtet werden. Mehr öffentliche Investitionen in Wohnraum können nicht zuletzt dem Aufkauf von ganzen Stadtteilen und der Spekulation global agierender institutioneller Immobilieninvestoren entgegenwirken.

Die Städte fordern außerdem mehr Bewusstsein auf EU-Ebene für die Wohnungskrise in Europas Städten ein. Denn die aktuelle Entwicklung hat gravierende soziale und wirtschaftliche Auswirkungen, die noch viel zu wenig bei der Gestaltung von EU-Politik beachtet werden. Vor allem Einkommensschwache, aber auch Menschen aus der Mittelschicht werden aus dem urbanen Raum verdrängt. Viele von ihnen leben in zu kleinen oder sanierungsbedürftigen Wohnungen, die Zahl der Zwangsräumungen steigt.

Sehr viele Menschen nehmen stundenlange Arbeitswege auf sich, um günstiger zu wohnen. Der Indikator für den Anteil des Einkommens, der für Wohnungskosten aufgewendet wird, muss drastisch gesenkt werden, so die Forderung der Städtepartnerschaft. Derzeit geht man immer noch von einem Anteil von 40 Prozent des Gesamthaushaltseinkommens aus, Ziel müssten 25 Prozent sein, weil die Lebenshaltungskosten insgesamt gestiegen und die Einkommen nicht entsprechend gewachsen sind.

Wohnkosten senken
Laia Ortiz, Vizebürgermeisterin von Barcelona, einem Gründungsmitglied von EUROCITIES, des Netzwerks der großen europäischen Städte, das sich seit Jahren für bessere Rahmenbedingungen einsetzt, weist auf die Ausgrenzung vieler Menschen vom Wohnungsmarkt hin: „Die EU muss dem Recht auf Wohnraum Priorität einräumen und gewährleisten, dass die Städte für die Bewältigung der Wohnungskrise gerüstet sind. Die Städte können dies nicht allein tun. Wir brauchen die EU, um alle Ressourcen und Mechanismen für Städte zur Verfügung zu stellen, um dieses Ziel zu erreichen. Sonst werden Obdachlosigkeit und Ausgrenzung in europäischen Städten weiter zunehmen."

Ein umfassendes Unterstützungs- und Sanierungsprogramm für sozial benachteiligte Stadtteile läuft bereits in Lissabon. Rui Neves Bochmann Franco, stellvertretender Wohnbaustadtrat der portugiesischen Hauptstadt und Mitglied der Städtepartnerschaft sagt dazu: „In Lissabon stehen wir vor großen Herausforderungen, die durch touristische Plattformen und globale Immobilieninvestoren verursacht werden. Gleichzeitig versuchen wir, neue Perspektiven zu schaffen, indem wir zum Beispiel Nachbarschaftsentwicklungen fördern.“ Auch er sieht Handlungsbedarf auf EU-Ebene und ortet eine klare Nachfrage nach Austauschinstrumenten und -plattformen für Städte. „Wir verlangen auch eine neue Definition der Überbelastung von Wohnkosten", so Rui Neves Bochmann Franco.

Trendumkehr sozial und wirtschaftlich sinnvoll
Bessere Finanzierungsbedingungen, effizientere Regulierungen, ein laufender Wissensaustausch und ein Bündel an Lösungen für gute Wohnungspolitik – das sind laut Städtepartnerschaft wichtige Voraussetzungen für eine Trendumkehr.

Weitere Forderungen und Empfehlungen beziehen sich auf Instrumente, die Städten den Erfahrungsaustausch zur Wohnungspolitik erleichtern. Die Städtepartnerschaft fordert eine bessere Datenbasis zum Wohnungswesen und zur Wohnungswirtschaft in den Städten, da nationale Vergleiche nicht aussagekräftig genug sind oder gar die Realität verzerren.

Besondere Anliegen sind die Schaffung eines systematischen Monitoringsystems der Europäischen Kommission, um Entwicklungen besser beobachten und gegensteuern zu können, sowie mehr strukturelle Aufmerksamkeit auf Ebene der EU-Mitgliedstaaten durch die Wiederbelebung der „Housing Focal Points“ und der regelmäßigen Treffen der EU-WohnungsministerInnen.

Die größten Herausforderungen sehen die Städte in der Schaffung von neuem und der Erneuerung von bestehendem Wohnraum, dem Beschaffen von günstigen Baugründen, der Verbesserung von Nachbarschaften in Zusammenarbeit mit den BewohnerInnen und der Schaffung von Wohnungssystemen, wo es sie noch nicht gibt. Dazu hat sie auch eine Reihe von Empfehlungen für „gute Wohnungspolitik“ erarbeitet, von Maßnahmen gegen Spekulation über interessante Modelle der Baugrundsicherung und zur Vermeidung von Energiearmut bis hin zu Mieterschutz und Mitbestimmung.

Nicht zuletzt verweist die Partnerschaft auf ERHIN, die vorbildhafte Europäische Initiative für eine verantwortungsvolle Wohnungswirtschaft, mit der Corporate Social Responsibility Prinzipen im Wohnungswesen verankert werden. Wiener Wohnen ist der Initiative im Oktober 2018 als erstes österreichisches Wohnungsunternehmen beigetreten.

Wiener Modell als Vorbild für Europa
Österreichs Hauptstadt nimmt mit ihrem Wohnungssystem international eine Vorreiterrolle ein: 62 Prozent der WienerInnen leben in einem geförderten Wohnbau, also in den 220.000 Gemeindebau-wohnungen oder in den anderen mehr als 200.000 geförderten Wohnungen, die in ganz Wien verteilt sind. Im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Metropolen hat Wien seinen kommunalen Wohnungsbestand nicht privatisiert. Heute zeigt sich mehr denn je, dass sich diese Strategie bewährt hat. Sie ist entscheidend, wenn es um eine hohe und leistbare Wohn- und Lebensqualität für breite Bevölkerungsschichten, soziale Durchmischung, Frieden und Sicherheit geht.

„Wien hat vieles von dem, wofür wir uns auf europäischer Ebene federführend einsetzen, bereits verwirklicht. Wien versteht Wohnen als Grundrecht, wir sehen es als öffentliche Aufgabe an, genügend leistbaren Wohnraum zu schaffen. Die hohe Anzahl geförderter Wohnungen sowie die umfassenden Investitionen im Bereich der Wohnhaussanierung wirken preisdämpfend auf den gesamten Wiener Wohnungsmarkt“, so Wohnbaustadträtin Kathrin Gaál. „Im geförderten Wohnbau und bei den Gemeindewohnungen gibt es keine Maklergebühren, keine Lagezuschläge und auch keinen Wiedervermietungseffekt, der die Mieten nach oben schnellen lässt. Es gibt nur unbefristete Verträge und gedeckelte Mieten. Wir haben damit eine Situation, die nirgendwo sonst so selbstverständlich ist. Dank bewusst höher angesetzter Einkommensgrenzen hat auch die breite Mittelschicht Zugang zu diesen Wohnungen – mit Nettomieten von 4 bis 5 Euro pro Quadratmeter. Das ist die größte Mittelstandsförderung“, erklärt Gaál.

Diesen Weg wird Wien auch künftig beschreiten. So wird die Wohnbauoffensive fortgesetzt. Bis 2020 werden weitere 14.000 geförderte Wohnungen auf Schiene gebracht. Pro Jahr werden in Wien im Schnitt rund 7.000 geförderte Wohnungen gebaut, mittelfristig soll diese Leistung auf 9.000 geförderte Wohnungen gesteigert werden. Das entspricht dem aktuellen Bevölkerungswachstum in der Stadt.

Aber auch Wien steht heute – durch den anhaltenden Investitionsboom in Immobilien – vor großen Herausforderungen, die mit massiven Verteuerungen am privaten Wohnungsmarkt und steigenden Grundstückspreisen verbunden sind. Die Wiener Stadtregierung hat daher kürzlich über eine neue Flächenwidmungskategorie in der Novelle der Wiener Bauordnung gesetzlich eine Zweidrittel-Quote fixiert. Künftig müssen bei großen Immobilienprojekten damit mehr geförderte als freifinanzierte Wohnungen gebaut werden. „Damit schieben wir Spekulationen mit Grund und Boden einen Riegel vor und geben den Wienerinnen und Wienern die Sicherheit, dass das Wohnen weiterhin leistbar bleibt“, so Gaál.

„Gemeinsam mit unseren Partnerstädten setzt Wien sich für das Grundrecht Wohnen und bessere Rahmenbedingungen für Investitionen in bezahlbaren Wohnraum ein. Die ‚Städtepartnerschaft Wohnen‘ hat großartige Arbeit geleistet und einen Meilenstein für das bezahlbare Wohnen in Europas Städten gesetzt. Ich gehe davon aus, dass das Ergebnis der Zusammenarbeit anerkannt wird – und sich die Regierungen der Mitgliedstaaten, allen voran die österreichische Bundesregierung, für die Umsetzung der Empfehlungen einsetzen werden“, so Bürgermeister Ludwig abschließend.

 

 

 

Allgemeine Informationen:
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Weitere Informationen:
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Österreichs EU-Vorsitz
https://www.eu2018.at

 

 

 

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