Anerkennung der Roma vor 25 Jahren als
 Meilenstein österreichischer Rechtsgeschichte

 

erstellt am
17. 12. 18
13:00 MEZ

NR-Präsident Sobotka und BR-Präsidentin Posch-Gruska unterstreichen Vielfalt und Verantwortung – Rudolf Sarközi als Motor der Anerkennung hervorgehoben; österreichische Roma-Politik beispielgebend
Wien (pk) - Unter dem Motto "Vielfalt und Verantwortung" fand am 16. Dezember im Plenarsaal des Parlaments eine Matinee aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums der Anerkennung der Roma als Volksgruppe statt. Die Roma und Sinti wurden am 16. Dezember 1993 als "Volksgruppe der Roma" anerkannt. Bundesratspräsidentin Inge Posch-Gruska eröffnete die Matinee. Der Wissenschaftliche Leiter des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstands Gerhard Baumgartner hielt den Festvortrag, in dem er durch die jüngere Geschichte der Volksgruppe führte. Barbara Glück, Direktorin des Mauthausen Memorials, führte ein Gespräch mit Manuela Horvath (33), Angehörige der Volksgruppe der Roma und Gemeinderätin in Oberwart, und dem Roma-Schriftsteller Stefan Horvath (69), in dem die persönlichen Erfahrungen, aber auch das sich geänderte Bewusstsein zur Sprache kamen. Nach Ansprachen von Emmerich Gärtner-Horvath, dem Vorsitzenden des Volksgruppenbeirats der Roma, und Christian Klippl, Obmann des Kulturvereins österreichischer Roma, sprach Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka die Schlussworte.

Sobotka: Vorurteile sind nachhaltig nur durch eine emotionale Herangehensweise zu bekämpfen
"Vorurteile sind nachhaltig nur durch eine emotionale Herangehensweise zu bekämpfen, und dabei spielt die Kultur eine wesentliche Rolle", betonte Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka als Resümee der Matinee. Zur Integration gebe es keine Alternative, Integration heiße aber in keinem Fall Assimilation, stelle er mit Nachdruck fest.

Die heutige Festveranstaltung gelte jenen, die gelitten haben und ermordet wurden, jenen, die Konsequenzen gezogen haben, jenen, die sich engagiert und andere überzeugt haben, und jenen, die die Arbeit fortsetzen, unterstrich der Nationalratspräsident, der damit auch einen Auftrag an die Zukunft verbunden sieht. Es gelte vor allem, ein nachhaltiges Bewusstsein für die Reichhaltigkeit der österreichischen Kultur durch die Volksgruppen zu schaffen. Gerade in Zeiten der Globalisierung sei es wichtig, die eigene Identität zu pflegen. Die Aufgabe der Politik sei es, dies auch zu unterstützen und in der Volksgruppenpolitik insgesamt nicht müde zu werden. Als einen wichtigen Mosaikstein dazu sieht Sobotka, sich in der Schule mit den Volksgruppen und ihrer Geschichte und Kultur auseinanderzusetzen.

Der Nationalratspräsident hält es auch für eine notwendige europäische "Hausaufgabe", die Volksgruppen und ein diesbezügliches europäisches Bewusstsein zu fördern, denn die Probleme gebe es nicht nur in Osteuropa. Deshalb sollte hier die Kommission aktiv werden und Lösungsansätze für die Mitgliedstaaten bereitstellen. Der Nationalratspräsident setzt hier besonders auch auf die Unterstützung der BotschafterInnen der betreffenden Länder, die bei der heutigen Matinee zahlreich vertreten waren.

Rund zwei Wochen vor der Anerkennung der Roma hatte am 3. Dezember 1993 die erste Briefbombenserie Österreich erschüttert. Etwas mehr als ein Jahr nach der Anerkennung der Roma als Volksgruppe, in der Nacht vom 4. auf den 5. Februar 1995 hatte eine Rohrbombe in einer Roma-Siedlung am Rande von Oberwart vier Menschen das Leben gekostet.

Lebensrealitäten
Im Gespräch mit Barbara Glück und Manuela Horvath erzählte Stefan Horvath (nicht mit Manuela Horvath verwandt) von seinem von Diskriminierung gekennzeichneten Bildungsweg und dem Rohrbombenattentat 1995, bei dem sein Sohn und drei weitere Bewohner der Siedlung ermordet wurden. Bereits Monate zuvor, kurz nach der Explosion einer Rohrbombe in Klagenfurt, bei der ein Polizist im August 1994 beide Hände verloren hatte, bemerkten die vier Burschen verdächtige Vorgänge rund um die Siedlung. Die Erwachsenen taten es als Hirngespinste ab. Selbst am Abend der Sprengung glaubte Stefan Horvath seinem Sohn nicht, als dieser ein Krachen gehört hatte. Horvath warf ihm vor, er nehme sich zu wichtig. "Dann hat er sich mit den Worten verabschiedet: Es muss erst was passieren, bis etwas geschieht", erzählte Horvath bei der Matinee. Wenige Minuten später war sein Sohn tot.

Das Leben von Stefan Horvath war von Ausgrenzung geprägt. Nach vier Jahren Volksschule befand ihn sein Lehrer als für die Hauptschule geeignet. Das war 1959 nicht selbstverständlich. Viele beendeten ihre Schulbildung nach acht Jahren Volksschule. "Ganze zehn Minuten bin ich in der ersten Hauptschulklasse gesessen, als der Direktor gekommen ist und gesagt hat: "Wir haben noch nie ein Zigeunerkind in unserer Schule gehabt und das wird so bleiben", berichtete Horvath. Sein Volksschullehrer erkämpfte tags darauf, dass Stefan Horvath die Hauptschule dennoch besuchen durfte.

Nach vier ausgezeichneten Jahren Hauptschule wollte Horvath in die damals neu errichtete Handelsschule Oberwart eintreten. Bei der Aufnahmeprüfung war er Drittbester von 1.000 BewerberInnen für 200 Schulplätze. Dennoch wurde er abgewiesen – aus "Platzmangel", wie es hieß. Er wollte eine Mechaniker-Lehre beginnen – und wurde abgewiesen, mit der Begründung "Zigeuner stehlen und sind faul". Erst in Wien am Bau fand er Arbeit – als Hilfsarbeiter, wo er täglich 200 Zementsäcke von Lkws abladen musste. Jeder dieser Zementsäcke wog mehr als der damals 15-Jährige selbst.

Keine Diskriminierung erfuhr Manuela Horvath. Auch sie ist Roma und stammt aus Oberwart. Ihr Schul- und Ausbildungsweg verlief wie die Wege vieler Tausender Burschen und Mädchen ihres Alters. Allerdings hatte sie einen Großvater, Michael Horvath, der von den Nazis verfolgt worden war und sieben Jahre in Konzentrationslagern verbracht hatte. Für die meisten ehemaligen KZ-Insassen in der Roma-Siedlung in Oberwart war die Zeit des Nationalsozialismus ein Tabu-Thema. Michael Horvath war eine Ausnahme: Er sprach täglich von seinen Demütigungen durch die Nazis. Er engagierte sich auch für die Volksgruppe der Roma und verlor zwei Enkel beim Attentat von 1995. Durch ihn fühlt sich Manuela Horvath verpflichtet, in Schulen bei Kindern und Jugendlichen gegen Vorurteile anzukämpfen. Auch Stefan Horvath geht als Vertreter von Zeitzeugen in Schulen und berichtet von seinen Diskriminierungen.

Posch-Gruska: Bis in die 1980er-Jahre war Diskriminierung in Schulen und am Arbeitsmarkt Praxis
"Bis in die 1980er-Jahre war es Praxis, die Kinder der Roma-Volksgruppe in Sonderschulen abzuschieben", berichtete auch Bundesratspräsidentin Inge Posch-Gruska. Sie erinnerte daran, dass das Arbeitsamt Oberwart "ganz offiziell rassistische Stellenausschreibungen mit dem Vermerk 'Bitte keine Zigeuner' noch kurz vor der Anerkennung der Volksgruppe veröffentlicht hat".

Posch-Gruska betonte, die Volksgruppe der Roma hätte den europäischen Raum und die österreichische Kultur geprägt. "Nur zehn Prozent der Roma und Sinti haben die Massenmorde der Nazis und die katastrophalen Zustände in den Konzentrationslagern überlebt", sagte die Bundesratspräsidentin. Und als diese in ihre Siedlungen zurückkehrten, waren ihre Häuser zerstört und ihre Namen nicht in den Grundbüchern.

Die Moderation der Matinee übernahm Sandra Szabo, für die musikalische Begleitung sorgte Amenza Ketane unter der Leitung von Hojda Willibald Stojka.

   

Bei der Matinee aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums der Anerkennung der Roma als Volksgruppe im Plenarsaal des Parlaments zog der wissenschaftliche Leiter des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstands, Gerhard Baumgartner, in seinem Festvortrag Bilanz über die jüngere Geschichte der Volksgruppe. Nach einer Einleitung durch Bundesratspräsidentin Inge Posch-Gruska und Ansprachen von Emmerich Gärtner-Horvath, dem Vorsitzenden des Volksgruppenbeirats der Roma, und von Christian Klippl, Obmann des Kulturvereins österreichischer Roma, hielt Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka die Schlussworte.

Die österreichischen Roma- und Sinti-Gruppen wurden am 16. Dezember 1993 durch einstimmigen Beschluss im Hauptausschuss des Nationalrates anerkannt. Die Bezeichnung "Volksgruppe der Roma" gilt als Oberbegriff für die verschiedenen in Österreich lebenden autochthonen Untergruppen. Gerhard Baumgartner erinnerte daran, dass am 16. Dezember 2018 nicht nur der 25. Jahrestag der Anerkennung der Volksgruppe der Roma als sechste österreichische Minderheit gefeiert werde, sondern am 10. Dezember der 70. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte begangen worden ist.

Endpunkt einer mehrere hundert Jahre dauernden Verfolgungsgeschichte
Baumgartner bezeichnete die Anerkennung der Roma als "Meilenstein in der österreichischen Rechtsgeschichte", als Endpunkt einer mehrere hundert Jahre dauernden Verfolgungsgeschichte, als Höhepunkt österreichischer Minderheitenpolitik und als Beginn einer "europäischen Erfolgsgeschichte österreichischer Roma-Politik". Bis dahin hatten Verfassungsjuristen den Roma und Sinti die Anerkennung als Volksgruppe verweigert, weil es ihnen an einer "dauerhaften Bindung an ein Territorium der Republik Österreich mangle" und weil sie "keinerlei Selbstorganisation" besäßen.

Das Blatt wendete sich, als Siedlungskurkunden der burgenländischen Roma aus dem Jahr 1674 beigebracht wurden und als am 15. Juli 1989 der "Verein Roma" in Oberwart gegründet wurde. Vor allem Rudolf Sarközi betrieb die Anerkennung der Roma und Sinti intensiv. "Er war der rechte Mann am rechten Ort zur rechten Zeit", hob Baumgartner Sarközi hervor. Auch der 1993 kurz bevorstehende EU-Beitritt Österreichs (1. Jänner 1995) hat Gerhard Baumgartner zufolge eine wichtige Rolle bei der Anerkennung der Volksgruppe der Roma gespielt, ebenso wie die Aufarbeitung der Zeit Österreichs während des Nationalsozialismus 1938 bis 1945, ausgelöst durch die "Waldheim-Affäre" 1986.

Baumgartner: Roma waren die Verlierer der Ostöffnung
Im Vergleich mit den Ländern des ehemaligen Ostblocks ist die Integration der Volksgruppenangehörigen der Roma vorbildlich verlaufen. "Roma waren die Verlierer der Ostöffnung", sagte Baumgartner. Er berichtete von einer Studie, bei der mehrere Tausend Menschen in Tschechien, der Slowakei, in Ungarn, Rumänien und Bulgarien befragt worden waren. Sie ergab, dass das Prädikat "Arm" mit der Volksgruppenbezeichnung "Roma" gleichgesetzt wird. Baumgartner sprach von einer "Ethnisierung der Armut". Sie sei der Grund, warum rechtsextreme Gruppen in den betroffenen Ländern einen derartigen Zulauf von armen Menschen habe. "Wie sonst sollten arme Leute beweisen, dass sie nicht aufgrund ihrer Ethnie arm sind?", stellte Baumgartner in den Raum.

Posch-Gruska: Ausgrenzung hat viele Gesichter
"Diese erschütternden Einsichten aus der Studie zeigen uns, wie wichtig es ist aufzupassen, dass wir das Erreichte nicht gefährden", hob Gerhard Baumgartner hervor. Bundesratspräsidentin Inge Posch-Gruska erinnerte, dass 12 Millionen Roma in Europa immer noch am Rande von Ortschaften wohnen, 35.000 davon in Österreich. "Ausgrenzung hat viele Gesichter – eines davon ist unser eigenes", unterstrich die Bundesratspräsidentin. Es liege in unserer Verantwortung, als Mitglieder einer Gesellschaft hinzusehen und zu handeln, wenn Menschen Unrecht geschehe. Sie zeigte auf, dass 2018 in Österreich durchschnittlich jede Woche eine rechtsextreme oder fremdenfeindliche Straftat bekannt geworden ist und mahnte: "Lasst uns unsere kulturelle Vielfalt als die Bereicherung sehen, die sie ist, und auf sie achten! Lasst uns aufeinander achten!"

Gärtner-Horvath: Die österreichische Roma-Politik ist beispielgebend in Europa
Der Vorsitzende des Volksgruppenbeirats der Roma, Emmerich Gärtner-Horvath, setzt sich vor allem für die Bewahrung der Kultur und Sprache der Roma ein. Die österreichische Roma-Politik wertet er als beispielhaft in Europa, deren Anerkennung als Volksgruppe als wichtiges politisches Signal. Dennoch, so stellte er mit Sorge fest, gibt es noch immer in unserer Gesellschaft Menschen, die große Vorurteile gegenüber der Volksgruppe der Roma haben.

Gärtner-Horvath ging auf die Geschichte der Anerkennung ein und thematisierte vor allem auch die damaligen Probleme im Bereich der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt. Es hätten sich aber dann zahlreiche Projekte entwickelt, nicht nur um dieser Diskriminierung entgegenzuwirken, sondern auch um die Roma-Kultur aufzuarbeiten. In diesem Zusammenhang nannte er vor allem das Sprachprojekt "Kodifizierung und Didaktisierung des Roman", das Theater-Projekt "I Kali Tschasarkija – die schwarze Kaiserin", Roma-Tanzgruppen, Roma-Bands, ferner die einsprachige Kinderzeitschrift "Mri nevi Mini Multi", zweisprachige und einsprachige Zeitungen und Märchenbücher und Roma-Blogs. Besonders hob er die namentliche Erfassung der Roma und die Zeitzeugendokumentation "Mri Historija" hervor.

Ein besonderes Danke gelte dem Nationalfonds und seinen MitarbeiterInnen unter der Leitung von Hannah Lessing. Durch dessen Einrichtung 1995 hatten die Angehörigen der Roma-Volksgruppe erstmals einen Zugang zu einer Einrichtung der Republik, die den Roma und deren Leidensgeschichte Aufmerksamkeit schenkte, sagte Gärtner-Horvath. Die Menschlichkeit sei bei diesen einfühlsamen Gesprächen immer im Vordergrund gestanden.

Klippl: Die Mehrheit der Roma in Europa lebt in elenden Umständen
Auf die triste Situation der Mehrheit der 12 Millionen Roma in Europa, vor allem in Südosteuropa, machte der Obmann des Kulturvereins österreichischer Roma, Christian Klippl, aufmerksam. Fast 80% der Volksgruppenangehörigen haben keinen Job, sie leben unter Ausgrenzung und Diskriminierung. Es gebe zwar den EU-Rahmenplan zur Integration der Roma bis 2020 – Zugang zur Bildung, zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitssystem und zu Wohnraum – aber ein Bericht aus dem Jahr 2016 habe gezeigt, dass die Mitgliedstaaten die Ziele weitgehend verfehlen, beklagte er. Die Politik würde kaum helfen, aus Angst vor dem Unmut der anderen Bevölkerungsschichten.

Auch Klippl hob die Bedeutung der Vereinstätigkeit, vor allem im Burgenland und in Wien, sowie den ORF-Burgenland mit eigenen Fernseh- und Radiosendungen hervor. Auch gebe es eine eigene Roma-Pastoral in der Erzdiözese Eisenstadt, der Klippl besondere Bedeutung beimisst.

Um der noch immer bestehenden Diskriminierung zu begegnen, schlug Klippl vor, die Geschichte der Roma als fixen Lehrstoff in den Unterricht zu integrieren. Er drängte auch auf ein zentrales Mahnmal in Wien für die Opfer der Roma und Sinti. Auch auf europäischer Ebene sieht er noch viel zu tun. Um dem mehr Nachdruck zu verleihen, kann er sich einen Friedensmarsch nach Brüssel vorstellen.

 

 

 

Allgemeine Informationen:
http://www.kv-roma.at/
https://www.parlament.gv.at
http://www.eu2018parl.at

 

 

 

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