Wien 1900. Aufbruch in die Moderne

 

erstellt am
18. 03. 19
13:00 MEZ

Leopold Museum eröffnet neu konzipierte Dauerpräsentation: Umfassende Ausstellung veranschaulicht das Phänomen Wien 1900 in all seiner Kreativität und Komplexität
Wien (leopold museum) - Wien 1900. Aufbruch in die Moderne ist als neue Dauerpräsentation des Leopold Museum konzipiert und gewährt einen Einblick in die enorme Fülle und Vielfalt künstlerischer wie geistiger Errungenschaften dieser Epoche mit all ihren kulturellen, sozialen, politischen und wissenschaftlichen Implikationen. Basierend auf den von Rudolf Leopold gesammelten Beständen des Leopold Museum und ergänzt um ausgewählte Leihgaben aus mehr als 50 privaten und institutionellen Sammlungen vermittelt die von Direktor Hans-Peter Wipplinger kuratierte Präsentation auf einzigartige Weise das Fluidum der einstigen Weltkulturhauptstadt Wien und beleuchtet die von Gegensätzen geprägte Atmosphäre des Aufbruchs zur Zeit der Jahrhundertwende. Über drei Etagen hinweg sind auf über 3.000 m² Ausstellungsfläche rund 1.300 Exponate zu sehen. Die Präsentation glänzt mit medialer Vielfalt, die von Malerei, Grafik, Skulptur und Fotografie über Glas, Keramik, Metall, Textilien, Leder und Schmuck bis hin zu Möbelstücken und Wohnungseinrichtungen reicht. Zahlreiche Archivalien ergänzen die Schwerpunkte der Ausstellung, die einen zeitlichen Bogen von ca. 1870 bis 1930 spannt.

Um- und Aufbruch im pulsierenden Wien der Jahrhundertwende
Wien war im Fin de Siècle Nährboden für ein beispiellos fruchtbares Geistesleben in den Bereichen der Künste und Wissenschaften. Paradoxerweise ereignete sich diese Hochblüte zeitgleich mit der stetigen Zunahme von politischen und sozialen Machtkämpfen sowie Nationalitätenkonflikten in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Die Einzigartigkeit liegt vor allem auch in der Tatsache begründet, dass der Aufbruch in den unterschiedlichsten Disziplinen, von Malerei und Literatur über Musik, Theater, Tanz und Architektur bis hin zu Medizin, Psychologie, Philosophie, Rechtslehre und Ökonomie stattfand.

„Das Phänomen Wien 1900 in all seiner Kreativität und widersprüchlichen Komplexität darzustellen, ist der Anspruch der neu konzipierten Dauerpräsentation. Die pulsierende Donaumetropole war um 1900 von Gegensätzen geprägt: Sie war die Hauptstadt des Hochadels und der liberalen Intellektuellen, der prachtvollen Ringstraße und der endlosen Armenviertel, des Antisemitismus und des Zionismus, des starren Konservativismus und des Aufbruchs in die Moderne. Glanz und Elend, Traum und Wirklichkeit, Symbolismus und Selbstbefragung bezeichnen den existierenden Pluralismus jener Zeit und markieren Wien als Ideenlaboratorium und Motor einer turbulenten Erneuerungsbewegung. In diesem heterogenen Milieu fand jene einzigartige Verdichtung an Kulturleistungen statt, die uns heute von Wien um 1900 als einem Quellgrund der Moderne sprechen lassen.“ Hans-Peter Wipplinger

Blütezeit des Historismus und stimmungsvolle Landschaftsmalerei
Den Ausstellungsauftakt in der vierten Etage des Leopold Museum bildet eine Ouvertüre zur Blütezeit des Wiener Historismus um 1870, mit Werken von Hans Makart, Hans Canon und der Künstler-Compagnie. Naturalistischen Gemälden aus Gustav Klimts Frühwerk werden Plastiken von Auguste Rodin sowie Medardo Rosso und Porträts von Anton Romako oder Franz von Lenbach gegenübergestellt. Zudem werden zurückhaltende, „stimmungsimpressionistische“ Landschaftsdarstellungen und Milieustudien von Emil Jakob Schindler, seiner Künstlerfreundin und Rivalin Tina Blau, von Olga Wisinger-Florian und Theodor von Hörmann gezeigt.

Gründung der Wiener Secession
„Vor dem Hintergrund des Wiener Historismus und Stimmungsimpressionismus ist die Gründung der Wiener Secession im Jahr 1897 zu sehen, die als Befreiungsschlag die Kunstszene aufrüttelte und als Geburtsstunde der österreichischen Moderne in der bildenden Kunst gilt. Den Wiener Modernen – progressive Künstler wie Gustav Klimt, Koloman Moser, Alfred Roller, Carl Moll und Josef Hoffmann – ging es im Sinne der Idee des Gesamtkunstwerkes um die Durchdringung aller Lebensbereiche der Menschen mit Kunst; die angewandte Kunst wurde dabei der bildenden Kunst gleichgestellt. In diesem Zusammenhang erschließt sich das Konzept der Wiener Werkstätte, die im Jahr 1903 von Josef Hoffmann, Koloman Moser und Fritz Waerndorfer gegründet wurde, “ so Hans-Peter Wipplinger.

In der Präsentation veranschaulichen Gemälde von Giovanni Segantini oder Ferdinand Hodler sowie Skulpturen von Max Klinger oder Franz von Stuck den intensiven Austausch der Wiener Avantgarde mit internationalen KünstlerInnen. Werke von Emil Orlik, Carl Moll, Broncia Koller-Pinell, Wilhelm List, Josef Maria Auchentaller, Erich Mallina oder Alexander Rothaug führen die stilistische Vielfalt in der Wiener Secession vor Augen, die von postimpressionistischen über symbolistische bis hin zu japonistischen Tendenzen reicht.

Tanz, Psychologie, Mode, Fotografie
Neben den Neuerungen in der bildenden Kunst werden revolutionäre Aspekte aus anderen künstlerischen und kulturellen Feldern beleuchtet, wie die Befreiung des Tanzes aus der Tradition des klassischen Balletts hin zu einer autonomen Kunstform durch das Wirken von Künstlerinnen wie den Schwestern Wiesenthal, Gertrud Bodenwieser, oder Rosalia Chladek. Auch Sigmund Freuds bahnbrechende Schriften und vor allem sein 1899 publiziertes Werk Die Traumdeutung werden hinsichtlich ihrer weitreichenden Konsequenzen thematisiert. Die Wiener Kleiderkunst, die mit dem Reformkleid die Zwänge des Korsetts überwand, wird anhand von Kreationen der Mode-Pionierin Emilie Flöge veranschaulicht. Das zu dieser Zeit noch verhältnismäßig junge Medium Fotografie ist durch Arbeiten von Dora Kallmus, Moriz Nähr und Heinrich Kühn repräsentiert.

Gustav Klimt
Gustav Klimts künstlerische Entwicklung von einem Vertreter der Kunst des Historismus hin zum Gründungsmitglied der Secession wird in der Präsentation anhand von Hauptwerken aus den Beständen des Museums sowie durch herausragende Dauerleihgaben aus Privatsammlungen nachvollziehbar. Zahlreiche Landschaftsbilder, die singuläre, den menschlichen Lebenszyklus thematisierende Allegorie Tod und Leben sowie der Eklat rund um die Fakultätsbilder stehen im Fokus. Darüber hinaus wird Klimts enge Freundschaft mit Emilie Flöge thematisiert, die als stilbildende Modeschöpferin eine wichtige Figur der kreativen Szene war.

Kunstgewerbeschule und Wiener Werkstätte
Oberste Prämisse der Wiener Werkstätte war die Förderung eines neuen Lebensstils durch die Durchdringung aller Lebensbereiche mit Kunst. Das von Josef Hoffmann entworfene Sanatorium Westend in Purkersdorf, das Palais Stoclet in Brüssel oder das ebenfalls von ihm geplante und von der Wiener Werkstätte ausgestattete Cabaret Fledermaus in Wien stellen hinsichtlich der Komplexität ihrer Gestaltung die herausragendsten Gesamtkunstwerke dar, was Architekturmodelle und Möbel veranschaulichen. Diverse Schöpfungen von KünstlerInnen der Kunstgewerbeschule und der Wiener Werkstätte, wie Schmuck, Gläser, Keramiken, Tafelgeschirr, Textilien, Buch- und Plakatgestaltungen, Tunkpapiere, Spielkarten oder Lederprodukte belgegen, auf welch hohem Niveau Entwurf und Handwerk in Verbindung gebracht wurden.

Wien als Architekturmetropole – Otto Wagner, Josef Hoffmann, Adolf Loos
In der dritten Etage wird Wien als Architekturmetropole präsentiert: Architekt, Theoretiker und Stadtplaner Otto Wagner sowie Essayist und Architekt Adolf Loos stehen im Fokus, von Koloman Moser – dem im 4. Stock ein Saal gewidmet ist – sind Möbelensembles zu sehen. Schließlich wird einer der bedeutendsten musealen Ankäufe der vergangenen Jahre präsentiert: das von Architekt und Designer Josef Hoffmann im Sinne des Gesamtkunstwerks gestaltete Zimmer für die Tochter des Industriellen Max Biach aus dem Jahr 1902.

Österreichischer Expressionismus
Richard Gerstl, Egon Schiele, Oskar Kokoschka – Arnold Schönberg
In den darauffolgenden Ausstellungsräumen stehen die Ausformungen des spezifisch österreichischen Expressionismus, der sich durch einen schwelenden Symbolismus und die Befragung des Individuums auszeichnet, im Fokus. Richard Gerstl, Oskar Kokoschka, Egon Schiele, Anton Faistauer, Max Oppenheimer, Anton Kolig, Albin Egger-Lienz, Albert Paris Gütersloh und Herbert Boeckl zählen zu den wichtigsten Vertretern. Die beiden künftig Oskar Kokoschka gewidmeten Säle werden nach der großen Retrospektive eingerichtet, die vom 6. April bis zum 8. Juli 2019 im Leopold Museum zu sehen sein wird. Aktuell ist dort Arnold Schönberg eine von Theres Muxeneder vom Arnold Schönberg Center kuratierte Werkschau gewidmet. Richard Gerstls ausdrucksstarke, gestisch expressive Malerei, die in manchen Gemälden in eine Formauflösung mündete, macht ihn zum ersten Vertreter des österreichischen Expressionismus. Das Leopold Museum besitzt die weltweit größte Sammlung von Werken des Künstlers und präsentiert Selbstbildnisse, Porträts und Landschaftsbilder. Eingebettet in den Kontext des österreichischen Expressionismus wird das Œuvre von Egon Schiele präsentiert. Mit 42 Gemälden und über 180 Arbeiten auf Papier sowie Autografen, Gedichten und Fotografien beherbergt das Leopold Museum den umfangreichsten und bedeutendsten Bestand an Werken des Künstlers.

Kunst und Krieg – Pluralismus der Stile
Im Erdgeschoss findet die Dauerpräsentation ihre Fortsetzung. Die Künstlergeneration um Egon Schiele erlebte den Krieg am Schlachtfeld mit. Viele von ihnen hatten sich von der allgemeinen Begeisterung anstecken lassen, ihre Euphorie wich allerdings rasch einer Ernüchterung oder wandelte sich sogar in eine erbitterte Kriegsgegnerschaft. Die Ausstellung veranschaulicht dies mit zahlreichen Arbeiten, darunter Werke von Anton Hanak, Albin Egger-Lienz oder Anton Kolig.

Neue Sachlichkeit und Magischer Realismus
Die Präsentation gibt einen umfangreichen Einblick in das erste Jahrzehnt der jungen Republik mit ihren gemäßigt expressionistischen oder neusachlichen Tendenzen. Innovative Impulse wurden in den 1920er-Jahren durch die wirtschaftliche Instabilität, die eine Etablierung autoritärer und faschistischer Ideen begünstigte, zunehmend verhindert. Neben Werken von Carry Hauser, Otto Rudolf Schatz, Josef Dobrowsky, Albert Birkle, Alfred Wickenburg, Josef Gassler, Viktor Planckh und Sergius Pauser, die zu den Hauptvertretern der Neuen Sachlichkeit in Österreich zählen, ist mit La Femme aux Roses auch ein Werk von Greta Freist zu sehen. Diese hatte ihre Werke wiederholt in den Ausstellungen des Hagenbundes präsentiert. Der Magische Realismus zeichnet sich durch eine fantastisch-surreale Grundstimmung aus, wobei die dargestellten Szenerien oft schwermütig und bedrohlich wirken. In Rudolf Wackers Werken etwa wird die rationale Wirklichkeit mit einer von Geheimnissen, Träumen und Halluzinationen geprägten Welt verflochten.

„Die fragile Demokratie taumelte dem Untergang entgegen. Mit der Ausschaltung des Parlaments und der Einsetzung einer autoritären Regierung, dem Verbot der sozialdemokratischen Partei und der Installierung des austrofaschistischen Ständestaates wurde dem Nationalsozialismus ein fruchtbarer Nährboden bereitet. Manche bildenden KünstlerInnen wiesen bereits früh auf die drohende Gefahr hin. Andere stellten sich in den Dienst der Propaganda und wurden später überzeugte NSDAP-Mitglieder. Schließlich wurde eine Vielzahl jener Leitfiguren aus Kunst, Musik, Literatur und Wissenschaft, die substanziell an der Hochblüte der Wiener Moderne beteiligt waren, zur Emigration gezwungen oder ermordet.“ Hans-Peter Wipplinger

Ausgewählte Werke aus dem Bereich der Gedächtniskunst beleuchten diese fatale Entwicklung und bilden das unheilvoll-visionäre Ende der Ausstellung: Peter Weibels Installation Vertreibung der Vernunft thematisiert den kulturellen Exodus und die systematische Auslöschung der jüdischen Bevölkerung und zwei Arbeiten von Heimrad Bäcker verweisen auf die Totalität der nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie.

Ein ExpertInnengremium unterstützte auf Einladung von Direktor Hans-Peter Wipplinger dieses Ausstellungsprojekt in Form mehrtägiger Symposien, die 2018 im Leopold Museum stattfanden. Zum ExpertInnenrat zählen Andrea Amort (Tanz), Bazon Brock (Ästhetik), Monika Faber (Fotografie), Allan Janik (Philosophie und Ökonomie), Stefan Kutzenberger (Literatur), Diethard Leopold (Sammlungsgenese), Monika Meister (Theater), Therese Muxeneder (Musik), Ernst Ploil (Angewandte Kunst), Ivan Ristic (Architektur), August Ruhs (Psychologie), Burghart Schmidt (Philosophie) und Thomas Zaunschirm (Kunstgeschichte).

Zur Ausstellung erscheint im Juni 2019 ein umfassender Katalog, herausgegeben von Hans-Peter Wipplinger, mit Beiträgen von Andrea Amort, Bazon Brock, Heike Eipeldauer, Verena Gamper, Allan Janik, Stefan Kutzenberger, Diethard Leopold, Monika Meister, Therese Muxeneder, Burghart Schmidt, Ernst Ploil, Ivan Ristic, August Ruhs, Hans-Peter Wipplinger und Thomas Zaunschirm (560 -Seiten, ca. 1000 Abbildungen, Deutsch/Englisch in getrennter Auflage, Verlag der Buchhandlung Walther König, EUR 49.90.-).

 

 

 

Weitere Informationen:
http://www.leopoldmuseum.org

 

 

 

 

 

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