Transkript: Gedenkrede Bundeskanzler Schüssel zur Wiedererrichtung der Republik

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Erklärung des Bundeskanzlers vom 26. 4. 2002 aus Anlass der 57. Wiederkehr des Tages der Wiedererrichtung der Republik Österreich am 27. 4. 1945

Hoher Ministerrat !

Ich darf Sie herzlich zu diesem Gedenkministerrat begrüßen.

Wir rufen uns heute die Geburtsstunde der Zweiten Republik in Erinnerung. Morgen vor 57 Jahren, am 27. April 1945, begann die Erfolgsgeschichte des "neuen Österreich." An diesem Tag legten mutige und weitsichtige Politiker den Grundstein für das neue Österreich. Er war zunächst nicht mehr als eine Chance, ein Fenster in die Zukunft. Es war am 27. April 1945 noch vollkommen offen, wie und wohin sich Österreich entwickeln würde.

Dass wir heute auf eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte im Herzen Europas zurückblicken können, verdanken wir keinem historischen Automatismus. Wir verdanken diese Erfolgsgeschichte vor allem den Bürgerinnen und Bürgern, unserer Vorgängergeneration, die an das neue Österreich geglaubt haben, und die es nicht nur materiell, sondern auch ideell aufgebaut haben.

Dass wir uns öffentlich an die Wiedererrichtung der Republik Österreich erinnern, soll nicht als irgend eine staatspolitische Zeremonie oder staatspolitisches Ritual abgetan werden. Es dient der immer wieder nötigen Besinnung darauf, dass Demokratie und individuelle Freiheit nicht schon immer da waren, dass es auf uns ankommt, dass Demokratie und Freiheit auch heute und morgen lebendig bleiben.

Gerade für die jüngeren Menschen in Österreich erscheint ein Leben in Demokratie und Freiheit vielfach als "Naturzustand" - viele ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger wissen aus leidvoller Erfahrung: es kann auch anders sein.

Vor wenigen Tagen haben meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zufällig Fotografien in einem Archiv von der ersten Weihnachtsfeier nach dem Krieg im Jahr 1945 hier im Bundeskanzleramt in die Hände gefallen. Das Palais Kaunitz, dieses haus, war durch Bombentreffer schwerst beschädigt. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die bei einem Teller Suppe und einem Glas Bier die erste Friedensweihnacht feiern, sieht man an, was sie hinter sich haben: Sie sind mit dem nackten Leben davon gekommen, haben Verwandte und Freunde verloren, wussten sie in Gefangenschaft, haben körperliche und seelische Wunden davongetragen und ihr Hab und Gut eingebüßt. Entbehrung, Hunger und Not stehen diesen Menschen ins Gesicht geschrieben. Aber es ist auch der gemeinsame Wille spürbar, eine geheimnisvolle Kraft, das Land wieder aufzubauen. Diese Bilder stehen exemplarisch für die vielen Aufträge, die uns die Geschichte mit gibt.

Wir dürfen nie vergessen, Demokratie und Freiheit als ein Erbe anzusehen, mit dem wir behutsam umgehen müssen. Von den heute um diesen Tisch sitzenden Regierungsmitgliedern sind wenige vor diesem Datum geboren. Wir repräsentieren also nicht mehr die Generation jener, die das neue Österreich gegründet hat, sondern diejenigen, die das freie und demokratische Österreich geerbt haben.

Den sorgsamen Umgang mit Demokratie und Freiheit schulden wir nicht nur den Gründern der Zweiten Republik, sondern vor allem den künftigen Generationen. Das Gebot der Nachhaltigkeit, das heute in Zusammenhang mit dem Weltgipfel von Johannesburg zehn Jahre nach Rio die Weltöffentlichkeit beschäftigen wird, gilt nicht nur für die Umwelt - wobei ich sage in der EU liegen nur Finnland und Schweden in Sachen Nachhaltigkeit vor uns; wir sind hier in der Spitzengruppe - oder für die Haushaltspolitik, wo wir mit dem Schuldenmachen auf Kosten der nächsten Generationen ein Ende gemacht haben: Das Nachhaltigkeitsgebot gilt auch für Demokratie und Freiheit.

Demokratie und Freiheitsbewusstsein müssen nachhaltig gesichert werden. Das ist eine Frage der Bildung, die wir in unserem erstklassigen Schulwesen klar in den Vordergrund stellen, das ist aber auch eine Frage der demokratischen Kultur, deren Pflege wir nie vernachlässigen dürfen.

Dass heißt aber auch den Bogen zu spannen zwischen der eigenen Meinung und jener des anderen. Es bedeutet, die Mehrheit anzuerkennen und eine Minderheit zu respektieren. Demokraten wird Offenheit genauso abverlangt wie Toleranz.

Demokratie und Rechtsstaat sind nicht für einige wenige, sondern für alle da: Wer anderen Rechte aberkennt, handelt undemokratisch. Wir haben die größtmögliche Meinungs- und Redefreiheit ebenso zu respektieren, wie die Freiheit, Protest zum Ausdruck zu bringen.

Hier haben die Ereignisse rund eine Ausstellung vor einigen Tagen gezeigt, dass einigen die Relationen für die demokratische Rechtmäßigkeit abhanden gekommen sind. Wer glaubt, seine Anliegen mit Gewalt durchsetzen zu können, hat vor allem eines nicht verstanden: Die Lehren der Geschichte, in deren Auftrag vermeintlich demonstriert wurde.

Der demokratische Rechtsordnung, der Rechtsstaat kennt keine politische Farbenlehre - er schützt die Grundrechte aller Bürgerinnen und Bürger, er setzt allen Extremen und Extremisten klare Grenzen, wo unsere demokratische Wertordnung grundlegend bedroht wird. Denn auch das gehört zu den Anliegen und den Aufträgen der Wiedererrichtung der Republik: Allem standhaft entgegen zu treten, was Freiheit und Demokratie bedroht. Dabei ist die richtige Wahl der Mittel und die Frage des Ortes von untergeordneter Bedeutung .
   

Ich rufe alle Parteien auf, die politische Auseinandersetzung in der demokratischen Institution des Parlaments auszutragen. Volksvertreter wurden gewählt um ihr Mandat im Nationalrat auszuüben, nicht auf der Straße.

Oft ist es auch notwendig, seine Meinung klar und deutlich zu vertreten und den Diskurs und die Diskussion konsequent und hart zu führen. Das halten die österreichischen Institutionen aus; Österreich ist eine feste, stabile Demokratie.

Den Konflikt auf die Straße zu tragen ist jedoch kein Weg der Auseinandersetzung zwischen politischen Parteien. Diese Lehre sollten wir alle aus der Vergangenheit ziehen.

Deshalb werden auch die staatlichen Institutionen klar und stark auftreten, um gewalttätige Demonstrationen und Rechtsverletzungen bei Demonstrationen von vornherein zu unterbinden. Ich sage auch kla im Hinblick auf die stattfindende verbale Aufrüstung im Zusammenhang mit dem 8. Mai schon jetzt klar sagen: Die gesamte Bundesregierung steht und wird voll hinter der Exekutive stehen. Sie wird alle Maßnahmen ergreifen, um Gewalttätigkeiten und Rechtsverletzungen von vornherein zu verhindern.

Die Demokratie wurde unserem Land am 27. April 1945 nicht einfach in den Schoß gelegt, sie musste mit Leben erfüllt werden. Damals war dies vor allem auch eine Frage der Institutionen, die ja bereits von der Verfassung von 1920 grundgelegt worden waren.
Österreich war seit 1945 vielen Prüfungen unterworfen:

  • Zuerst die Zeit der Besatzung; Das Widerstehen gegen manchen politischen Druck von Seiten der Besatzungsmächte bis wir unsere volle Souveränität wiedererlangt haben
  • Und der Putschversuch durch die Kommunisten 1950
  • 1956 die erste wirkliche Bewährungsprobe für das junge Bundesheer. Gleich mit der Ungarnkrise hat es eine wichtige Prüfung zu bestehen
  • 1968 Prager Frühling; die Niederschlagung der demokratischen Regungen oder deren frühen Blüten in der Tschechoslowakei; eine weitere Herausforderung für uns;
  • aber auch die Balkankriegshandlungen direkt an der österreichischen Grenze und die Aufnahme von tausenden Flüchtlingen haben die Institutionen aber auch die Herzlichkeit und Freundlichkeit der Österreicher gefordert.
  • Die Terroranschläge wie gegen die OPEC in Wien sind von vielen schon vergessen
  • Und auch viele tragische Unfälle und Katastrophen waren nicht nur eine Prüfung für die Opfer und deren Angehörige sondern auch auch für die Rettungs- und Katastrophenschutzeinrichtungen in unserem Land; ich nenne nur die schrecklichen Katastrophen von Lassing, Galtür und Kaprun.

Diese Prüfungen haben Österreich, seine Institutionen vor allem aber seine Menschen bestanden.

Heute stehen nicht unsere Institutionen alleine am Prüfstand, heute ist eine lebendige Bürgergesellschaft gefordert, die nicht alles an den Staat delegiert, sondern Verantwortung wahrnimmt und auch selbst aktiv wird. Der beste Schutz gegen die Gefahr des Autoritarismus - egal, aus welcher Ecke er droht -, ist eine lebendige Bürgergesellschaft. Eine Gesellschaft der Bürgerinnen und Bürger, die weiß, dass Demokratie und Freiheit eben keine Selbstverständlichkeiten sind.

Diese Bürgergesellschaft lebt in Österreich, in zahlreichen Vereinen, Organisationen und Aktivitäten. Diese Bürgergesellschaft demonstriert ihre Anliegen nicht mit Gewalt, physisch oder verbal, sondern durch die positiven Ergebnisse der Tätigkeit tausender Freiwilliger. Der Bogen dieser Anliegen spannt sich vom Dienst an Kranken und Verletzten über den Erhalt von Kulturdenkmälern bis hin zum Schutz der Berge, der Natur und Umwelt.

Es ist gut und wichtig, dass wir die Wiedererrichtung der Demokratie in Österreich als Prozess begreifen, der nicht einfach begonnen und vielleicht aufgehört hat oder selbstverständlich ist und auf den wir heute zurückblicken: Demokratie und Freiheit müssen laufend errichtet, erneuert, argumentiert, verteidigt und vor allem gelebt werden, um ihre positive Wirkung für die Menschen auch in der Zukunft entfalten zu können.

   
Wir müssen als Staat stets fragen: Was garantiert unsere Freiheit? Zunächst muss jeder Staat selber in der Lage sein, sich und die Freiheit seiner Bürger, die Integrität und Unverletzlichkeit der Souveränität zu schützen. Auch eine sichere Einbettung in die internationale Staatengemeinschaft und in unsere gemeinsame europäische Heimat ist ein wichtiges Element der Sicherheit. Als geachtetes und respektiertes Mitglied in internationalen Organisationen und als anerkannter Teil der Europäischen Union und der sie bildenden Wertegemeinschaft können wir sicher sein, dass unsere Eigenständigkeit und Freiheit nicht mehr in Frage gestellt wird. Freiheit fordert aber letztlich auch ein eigenverantwortliches Mitwirken an ihrer Sicherstellung. Wir dürfen es uns nicht leisten, uns auf andere zu verlassen. Gerade als Land, dass in die Sicherheitspolitik der EU voll integriert und keinem Bündnis angehört, sind wir dazu verpflichtet, unseren Status auch hinsichtlich unserer militärischen Kapazitäten glaubwürdig zu sichern, und zwar mit allen Mitteln zu verteidigen, und zwar zu Land und in der Luft.

Dass wir in die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger investieren, sollte spätestens seit dem 11. September völlig außer Streit stehen: Seit diesem Datum kennen wir ein in dieser Tiefe und Dimension vollkommen neues Bedrohungsbild, das neue Antworten und geeignete Mittel zur Bekämpfung des Terrors erfordert. Die Aufdeckung von Terror-Zellen auch in europäischen Staaten in jüngster Vergangenheit zeigt, dass sich kein Land in diesem Bereich irgend eine Nachlässigkeit leisten kann. Trotzdem haben wir es geschafft, dass sich in Österreich unterschiedliche Nationalitäten, Kulturen und Religionen sich wohlfühlen und nicht nur nebeneinander friedlich zusammenleben, sondern miteinander gut auskommen und aktiv zusammenarbeiten. Der Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde hat jüngst in einem Interview nicht zu Unrecht auf diesen einzigartigen, österreichischen Weg des Miteinander hingewiesen. Angesprochen auf gemeinsame Initiativen jüdischer und arabischer Vertreter sage wörtlich: "Das stimmt. Außer in Österreich gibt es meines Wissens kein europäisches Land mehr, in dem beide Seiten noch miteinander reden. Die "Gemeinsame Erklärung der islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich und des Bundesverbandes der israelitischen Kultusgemeinden in Österreich" zu den Ereignissen im Nahen Osten ist ein konkretes Zeichen dieses Miteinanders". Diesen österreichischen Weg des Gesprächs und des Miteinander wird die Bundesregierung weiter mit voller Kraft fördern und unterstützen.

Ich habe eingangs bereits erwähnt, dass die österreichische Erfolgsgeschichte seit jeher eine Geschichte im Herzen Europas war; dort sind wir einfach zu Hause - wenngleich diese Geschichte, bedingt durch den Eisernen Vorhang, jahrzehntelang von uns in einer Randlage erlebt wurde und wir sie so gut wie möglich gestalten mussten.

Vor 57 Jahren war nicht absehbar, wie sich Europa entwickeln würde: Vor dem Hintergrund der damaligen historischen Erfahrungen war es aber wohl schwer vorstellbar, dass sich Europa zur Zone von Frieden und Stabilität entwickeln würde, die ihren Bürgerinnen und Bürgern in diesem Ausmaß Sicherheit, Wohlstand und Freiheit garantiert.

Die Erweiterung der EU setzt nun das historische Projekt der Widervereinigung Europas konsequent fort - und es wäre wohl ganz im Sinn der Gründungsmütter und Gründungsväter der Zweiten Republik, Österreich auch politisch im Herzen eines erweiterten Europa zu verankern. Diese Erweiterung der Union ist aber ein Projekt, das den künftigen Generationen verpflichtet ist. Wir können sagen: Mehr Europa ist besser für Österreich - in wirtschaftlicher, sicherheitspolitischer und geopolitischer Sicht. Europa erweitert sich; aber auch wir erweitern uns und unsere Chancen damit.

Mit dieser Erweiterung, die in zwanzig, vierundzwanzig Monaten Realität sein wird, schließt sich der Bogen vom Ausspruch des Leopold Figl - "Österreich ist frei" zu der Tatsache, dass Österreich jetzt wieder Herzland Mitteleuropas und ganz Europas wird.

Heute ist Österreich eines der wohlhabendsten Länder der Welt. Es ist gleichgültig, welchen Platz wir in welchem Ranking belegen, aber alle sagen das selbe: Wir liegen in der absoluten Weltspitze! Auch hier gilt: Nichts ist selbstverständlich - ein Ausruhen angesichts des Erreichten in der Sozialpolitik, in der Bildungspolitik, Kultur- oder Wirtschaftspolitik wäre unverantwortlich und bedeutet, hinter andere zurückzufallen. Alle gemeinsam, Politik und Wirtschaft, Sozialpartner, haben wir die Aufgabe, Österreich als dynamischen, wachsenden, zukunftsfähigen Standort zu erhalten und auszubauen.
   
Wenn wir uns heute an die Notlage der Menschen vor 57 Jahren und an die Wiedererrichtung der Republik Österreich erinnern, dann wird auch deutlich, dass sich unser Verständnis vom Verhältnis zwischen Staat und Bürger geändert hat.

Der Staat dirigiert weniger in das Leben und Arbeiten der Bürgerinnen und Bürger herein, er entwickelt sich zunehmend zum Partner: Aus dem allmächtigen "Vater Staat" wird der "Partner Staat".

Wir forcieren diesen notwendigen Übergang vom "Hoheitsstaat" hin zum "Dienstleistungsstaat". Der Bürger fordert zu Recht seine Rechte ein. Er will nicht länger ein vom Behördenakt abhängiger Rechtsunterworfener sein. Er sieht den Staat mehr und mehr als gleichberechtigten Partner und will für seine Leistung, Steuern und Abgaben, auch eine adäquate Gegenleistung. Die Begegnung zwischen Bürger und Beamten verläuft deutlich anders als in vergangenen Zeiten. Die Zeiten des Bittstellertums sollten endgültig der Vergangenheit angehören.

Dazu gehören auch eine hohe Servicequalität und eine ordentliche persönliche Begegnung. Deswegen ist unsere Verwaltungsreform so wichtig: Sie trägt dem neuen Staatsverständnis intern heißt das - Stichwort E-Government - aber auch im Kontakt zum Bürger Rechnung, etwa mit den one-stop-shop-Prinzip bei Behördenkontakten. Die Akten sollen - elektronisch - laufen, und nicht mehr die Bürger! Gleichzeitig hat der Staat als Arbeitgeber auch die Pflicht, seine Mitarbeiter mit der besten Ausstattung und Behandlung in die Lage zu versetzen, diesen Ansprüchen auch wirklich gerecht werden zu können. Die Reformen sollen auch beitragen, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu stärken und zu motivieren.

In den vergangenen 57 Jahren seit der Wiedererrichtung der Republik hat sich vieles verändert. Viele Veränderungen kamen von außen zu uns, wie die neue weltpolitische Situationen. Aber wir Österreicherinnen und Österreicher haben auch bewiesen und gezeigt, dass wir selber zu Veränderungen bereit sind und die Chance, die in jedem Neuen steckt, kreativ und erfolgreich nützen können. Diese Fähigkeit halte ich für eine wirklich österreichische Tugend, derer wir uns in der Vergangenheit nicht immer so bewusst gewesen sind. Wir sind heute dabei, sie wiederzuentdecken, um die österreichische Erfolgsgeschichte auf eine neue, auf eine zeitgemäße Art, als sozialer, als wirtschaftsstarker Staat fortschreiben zu können.

Meine Damen und Herren!
Ich danke Ihnen, dass Sie mit mir diese Gedenkfeier zur Wiedererrichtung der Republik begangen haben.

Quelle: Bundespressedienst

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