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Thema Aufbau – Rede von Bundeskanzler Schüssel im Nationarat zur Hochwasserkatastrophe

Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel:

Herr Präsident! Hohes Haus! Meine Damen und Herren! Zunächst danke ich Ihnen sehr für die Worte des Mitgefühls, für die Trauerminute, die das Hohe Haus abgehalten hat, und für den Dank an die freiwilligen Helfer, denn tausende Österreicher – insgesamt waren fast 200 000 Menschen vor allem in Salzburg, Niederösterreich und Oberösterreich betroffen – erlebten in den letzten Wochen wohl die schlimmsten Tage unserer Generation.

Die ärgste Naturkatastrophe seit langem hat weite Teile unseres Landes erfasst. Das Hochwasser hat vor allem in Niederösterreich, Oberösterreich und Salzburg ganze Landstriche, Städte und Dörfer mit Schlamm bedeckt – Bilder, die man sonst nur aus dem Fernsehen und aus ganz anderen Weltregionen kennt.

Tausende Menschen mussten aus ihren Häusern evakuiert werden, haben Heim und Hof teilweise unwiederbringlich verloren. Acht Menschen mussten ihr Leben lassen.

Unser Mitgefühl, unsere Anteilnahme gilt vor allem jenen, die zu Opfern dieser Katastrophe wurden, und all jenen, die jetzt vor den Trümmern ihrer Existenz stehen. Wir haben auch gemerkt, wie verwundbar unsere Welt geworden ist, die doch so sicher scheint: Aus heiterem Himmel können Menschen von einer solchen Flut getroffen und um ihr Lebenswerk gebracht werden.

Diese entfesselten Naturgewalten haben uns natürlich alle verunsichert, auch bedürftig gemacht nach Rettung, nach Zuspruch und Erklärung. All das hat gezeigt, wie sehr wir einander brauchen: in Österreich, in den Regionen, aber auch in Mitteleuropa und in der Europäischen Union – egal, ob Mitgliedsländer oder Beitrittskandidaten.

Dieses Hochwasser hat Österreich verändert, hat uns aus einem sehr schönen Sommer plötzlich aufgerüttelt. Auch die Prioritäten werden neu geordnet und neu zur Diskussion gestellt, wenn man beispielsweise sieht, dass ganze Betriebe, und zwar für Wochen, nicht mehr produzieren können, dass Menschen ihren Arbeitsplatz verloren haben, dass ganze Familien ihr Heim verloren haben, persönliche Gegenstände, Dokumente, Erinnerungsgegenstände unwiederbringlich weg sind, dass tausende Privatpersonen, Gewerbetreibende, Unternehmer und Landwirte praktisch hilflos zusehen mussten, wie ihre Arbeit innerhalb von wenigen Stunden vernichtet wurde.

Trotzdem haben wir auch in dieser Krise erkannt, dass die natürliche Nächstenliebe, die natürliche Solidarität in Österreich sehr gut funktioniert. Die Welle an Hilfsbereitschaft, an Solidarität ist beeindruckend! Ich möchte daher – ebenso wie der Herr Präsident des Nationalrates –, all jenen danken, die nicht nur Worte gefunden, sondern sehr konkrete Taten gesetzt sowie in den letzten Tagen gespendet haben, geradezu einen Spendenrekord aufgestellt haben, wie ihn dieses Land, ja wie ihn ganz Europa in dieser Form noch nicht gesehen hat. – Ich danke allen Spendern!

Innerhalb von vier, fünf Tagen sind in Österreich 45 Millionen € an Spenden zustande gekommen. In der Bundesrepublik Deutschland, die ja wesentlich größer ist, ist im Vergleich gerade die Hälfte zusammengekommen; dort läuft die Spendenwelle allerdings jetzt erst an. Das zeigt aber, dass Solidarität, dass Gemeinschaft, dass das Wir-Gefühl in Österreich lebt – und das ist etwas sehr Kostbares.

Ich habe gesagt, dass es in Österreich fast 200 000 betroffene Menschen gibt, die vieles verloren haben. Zugleich hat es in dieser Zeit aber 50 000 freiwillige Helfer gegeben, die aus dem Urlaub, aus den Betrieben, einfach von zu Hause gekommen sind, um Hand anzulegen und den Menschen zu helfen. Dazu kommen 10 000 Soldaten des Bundesheeres, 2000 Polizisten und Gendarmen, Profis aus aller Welt und allen Regionen.
An dieser Stelle: Allen, die da geholfen haben, ein großes Dankeschön! (Allgemeiner Beifall.)
Wir von der Bundesregierung haben für heute Früh alle Landeshauptleute eingeladen. Fast alle sind gekommen und haben mit uns die Hilfsmaßnahmen koordiniert. Es war ein sehr gutes und ausführliches Gespräch. Die ganze Bundesregierung, Länder, Städte und Gemeinden haben einstimmig ein umfassendes Hilfsprogramm vorgelegt, das wir dem Nationalrat heute als Wiederaufbaugesetz und Hochwasseropfer-Entschädigungsgesetz vorlegen. Wir ersuchen sehr darum, dass es darüber parteiübergreifenden Konsens gibt, damit diese Gesetzesvorlage noch in der ersten Sitzung im September beschlossen werden kann, sodass es auch wirklich am ersten Oktober im Bundesgesetzblatt steht.
Ich bitte Sie, meine Damen und Herren Abgeordneten, um dieses Zeichen gelebter Solidarität, auch im Bereich der Gesetzgebung!
Wir werden niemanden im Stich lassen! – Das verspreche ich hier und heute, auch nach Rücksprache mit den Ländern, Städten und Gemeinden.

 
Wir werden den Opfern die Hilfe unbürokratisch und rasch zukommen lassen. Wir haben heute beschlossen, den Katastrophenfonds um 500 Millionen € zu erhöhen, den Betrieben, die ja teilweise auch den Kat-Fonds ansprechen können, noch 100 Millionen € zusätzlich zur Verfügung zu stellen, für die Infrastruktur innerhalb des Katastrophenfonds 250 Millionen € zur Verfügung zu stellen und daneben für Wasser- und Abwasseranlagen 50 Millionen € im Umwelt- und Siedlungswasserwirtschaftsfonds bereitzustellen.
In Summe beträgt die direkte Hilfe allein von Bundesseite fast 700 Millionen €, worin auch die Verdoppelung der Spenden, die am Samstag eingelangt sind, inkludiert ist.
Überdies wird es ein umfassendes Konjunkturbelebungsprogramm geben: die Verlängerung der Maßnahmen für ganz Österreich für dieses Jahr auch auf das Jahr 2003. Dazu kommen für Hochwasserregionen und vor allem natürlich für die Betriebe deutlich erhöhte Gebäudeabschreibungen und Maschinenersatz- Investitionen: in Summe 400 Millionen €.
Das heißt, der Bund allein stellt deutlich über 1 Milliarde € jetzt schon zur Verfügung. Dazu kommt noch die Hilfe der Bundesländer. In Summe liegen derzeit Zusagen über 250 Millionen € direkt vor, sodass wir für den ersten Schritt gerüstet sind.
Wir lassen – ich betone das – niemanden im Stich! Niemand braucht sich davor zu fürchten, mit seinem Elend und all seinen Sorgen allein gelassen zu werden. Egal, ob es um materielle Güter geht oder auch um menschliche Zuwendung: Die Betroffenen müssen und sollen spüren, dass sie in einer Gemeinschaft leben, die Anteil nimmt, in einer Gesellschaft, die mehr anbietet als leere Worte. Solidarität lebt, und sie muss leben, heute und jetzt! Dafür brauchen wir keine Anleihe, die später einmal wirksam wird. Wir brauchen die solidarische Hilfe jetzt, und wir sind dazu bereit, meine Damen und Herren! (Beifall bei der ÖVP und den Freiheitlichen.)
Wahr ist: In einer solchen Situation gestalten sich auch die Prioritäten neu. Ich sage das hier ganz ungeschminkt: Viele Bundesländer haben von uns verlangt – zu Recht verlangt! –, dass der innerösterreichische Stabilitätspakt natürlich nicht auf die dramatischen Ausgaben – noch kennen wir ja das Gesamtausmaß des Schadens nicht – angewendet wird. Das ist auch selbstverständlich. Es sind Schadenssummen genannt worden, die das weit übersteigen, worüber heute noch in manchen Medien spekuliert wird.

Wir sind bereit, hier zu helfen. Das setzt aber auch voraus, dass wir den Mut haben, zu sagen, dass für das heurige und das nächste Jahr budgetär eine „Punktlandung“ nachrangig ist. Wir wünschen uns und brauchen das Ziel, mittel- und langfristig keine neuen Schulden zu machen, aber in der jetzigen Situation hat Vorrang zu gelten für jene, die unsere gemeinsame Hilfe brauchen. – Das ist für mich selbstverständlich.

Zweitens müssen wir dem Notwendigen gegenüber dem den Vorrang einräumen, was wünschbar und sinnvoll ist und in unserem Programm steht. Dazu gehört zum Beispiel die Entlastung der Steuerzahler. Ich sage das hier ganz offen: Wir hätten uns alle gewünscht – und es wäre auch gut gewesen –, eine Entlastung in guter Zeit durchzuführen.
Für mich hat aber jetzt das Notwendige Vorrang, das heißt, die Hilfe für die Hochwasseropfer und die Konjunkturbelebung, sodass wir so rasch als möglich die Betriebe zur Arbeit bringen, damit die Menschen wieder beschäftigt sind, damit wir so rasch als möglich den Wiederaufbau der Häuser finanzieren können, damit so rasch als möglich den Bauern geholfen wird, die zum Teil massive Ernteschäden haben oder die Futtersituation für ihre Tiere sonst nicht bewältigen können, damit wir niemanden alleine lassen – egal, ob Groß- oder Kleinbetrieb, Arbeitnehmer oder Selbstständiger, Landwirt oder jene, der in einer Stadt leben. 

 
Wichtig ist, die Prioritäten neu zu setzen. Glauben Sie mir: Es ist mir das Verschieben – nicht das Absagen, sondern das Verschieben! – der notwendigen Steuerentlastung auf das Jahr 2004 nicht leicht gefallen, denn auch das war und ist ein Herzstück unseres gemeinsamen Regierungsprogramms. Aber ich meine, dass in der jetzigen Situation ein solches Solidaritätsopfer von ganz Österreich erklärbar und notwendig ist, um den Menschen in einer angespannten Situation Hoffnung und Zuversicht zu geben. Daher appelliere ich an Ihr Verständnis und bitte Sie in diesem Zusammenhang um Ihre Zustimmung. (Beifall bei der ÖVP und den Freiheitlichen.)
Wir haben in diesem Gesetzespaket, das wir Ihnen heute vorstellen, auch vorgesehen, dass großzügige Hilfe steuerlicher Art gegeben wird. Es wird also zum Beispiel Steuerstundungen für Betriebe, die in Not sind, geben. Es wird selbstverständlich keine Säumniszuschläge geben. Es wird die Absetzbarkeit von Ausgaben veranlasst, die ein Betrieb für seine Mitarbeiter, die durch das Hochwasser geschädigt sind, tätigt. Spenden aus den Betrieben werden steuerlich abzugsfähig sein. Jedermann kann seine Schäden auch als außerordentliche Belastung geltend machen.

Als erste Ausgabe haben die Länder heute zugesagt, dass akontiert wird – so rasch wie nur irgend möglich, ab dieser Woche. 20 Prozent der Schäden und mehr werden akontiert, damit die Menschen zumindest irgendetwas sofort in der Hand haben.
Zweitens sollen dann im Normalfall bis zu 50 Prozent des Schadens entschädigt werden; in existenzgefährdenden Fällen auch weit darüber hinaus.

Selbstverständlich werden sowohl der Finanz- als auch der Wirtschaftsminister Gespräche mit der Banken- und Versicherungswirtschaft führen, um auch von dieser Seite ein Solidaritätsopfer einzufordern, das für die Betroffenen in diesen Regionen absolut notwendig und sinnvoll ist.
Wir werden auch die Kontrolle ernst nehmen – das sage ich hier sehr offen –, denn es kann nicht so sein, dass sich manche bei fünf Töpfen bedienen, ein anderer hingegen, weil er sozusagen die Wege im Behördendschungel nicht kennt, zu kurz kommt. Eine Abwicklungsstelle ist mit den Ländern abgesprochen, genaue Kontrolle, damit von Anfang an klargestellt ist: Sowohl das Geld der Spender als auch das der öffentlichen Hand kommt zu jenen, die diese Hilfe auch wirklich benötigen – und das halte ich für absolut sinnvoll und richtig.

Wir haben gestern einen mitteleuropäischen Gipfel – ich nenne ihn jetzt einmal so – abgehalten. In Berlin sind die Regierungschefs jener vier Länder zusammen gekommen, die vom Hochwasser besonders betroffen gewesen sind: Gerhard Schröder, sein Außenminister Joschka Fischer, Benita Ferrero-Waldner und ich als Vertreter der betroffenen Mitgliedsländer der Europäischen Union, aber auch die der demnächst neuen Mitglieder, nämlich Tschechiens und der Slowakei.

Zum ersten Mal fand auch ein Treffen mit dem tschechischen Regierungschef Vladimir Spidla sowie mit dem sich gerade im Wahlkampf befindlichen slowakischen Premierminister MikulᚠDzurinda statt. Zahlreiche Mitglieder der Europäischen Kommission – geführt von Romano Prodi, Michel Barnier als dem für Regionalpolitik zuständigen Kommissar, ebenso die Budget-Kommissarin Michaele Schreyer und der für die Erweiterung zuständige Kommissar Günter Verheugen – waren hiebei anwesend.

Meine Damen und Herren! Wir brauchen in dieser Situation auch ein europäisches Signal. Europa darf uns in Mitteleuropa nicht im Stich lassen! Kein Mensch würde es verstehen, wenn es in einer Situation wie jetzt zwar einen internationalen Hilfsfonds gibt, der bei einem Wirbelsturm in Nicaragua, einer Überschwemmung in China oder einem Erdbeben in der Türkei hilft, aber für eine innereuropäische Katastrophe marginale, fast lächerliche Beträge von, glaube ich, lediglich 1,5 Millionen € zur Verfügung stehen. Es bedarf – neben dem notwendigen und richtigen Stabilitätspakt – einer Solidaritätsunion, und zwar sowohl für die EU-Mitglieder als auch für die Kandidatenländer. Und dafür werden wir uns einsetzen, meine Damen und Herren!

Romano Prodi hat gestern in Berlin gesagt: Was heute Österreich und seinen Nachbarn passiert, kann morgen anderswo in Europa passieren! – Das ist wahr, und deswegen wollen wir die Idee der europäischen Familie ernst nehmen: Europa soll und wird eine Solidarunion werden. Unser Ziel ist es, dass eine europäische Hilfe allen hievon Betroffenen zukommt.

Strukturfonds-Umschichtungen sind da zu wenig. Erstens sind das sehr bürokratische Verfahren, zweitens helfen Sie nie individuell Betroffenen, sondern ausschließlich Firmen beziehungsweise sind dem Aufbau der Infrastruktur gewidmet. In dieser Situation jedoch brauchen wir ein europäisches Signal, eine europäische Katastrophenhilfe, die im Notfall allen Bürgern Europas zusteht.

Der Weg dorthin wird jedoch nicht einfach sein: Wir brauchen die Einstimmigkeit im Rat, wir brauchen die Zustimmung des europäischen Parlaments, aber wir vier betroffenen EU-Mitgliedsländer beziehungsweise Neo-Mitglieder und die wichtigsten Kommissare haben gestern das Signal gesetzt: Wir wollen das, und wir werben dafür!

Benita Ferrero-Waldner ist, gemeinsam mit dem deutschen Außenminister, beauftragt worden, diesbezüglich Kontakte zu den Mitgliedsländern aufzunehmen – und bereits diesen Donnerstag wird unsere Außenministerin in Dänemark mit der dänischen Präsidentschaft Kontakt aufnehmen, um in einem EU-Sonder-Ministerrat diese Dinge sozusagen auf die Reise zu bringen.
Man konnte ja direkt spüren, dass jetzt eine neue Dimension der europäischen Politik greifbar wird, nämlich eine mitteleuropäische Solidargemeinschaft. Mein tschechischer Kollege Vladimir Spidla hat es so formuliert: Wir spüren wieder, dass wir ein geographisches und geradezu physikalisches Schicksal gemeinsam haben!
Es war mehr als eine Geste, dass etwa eine tschechische Berufsfeuerwehrgruppe – wirklich bis zum Umfallen! – in Gars am Kamp mit uns gegen das Hochwasser gekämpft hat und jetzt etwa Josef Pühringer einen oberösterreichischen Feuerwehrzug nach Südböhmen entsandt und Kontakt mit seinem südböhmischen Landeshauptmann-Kollegen aufgenommen hat.

Das ist gelebte mitteleuropäische Solidargemeinschaft – und das ist wichtig, meine Damen und Herren! Herzlich danke ich allen, die daran mitgewirkt haben!

Meiner Überzeugung nach ist es wesentlich, dass es auch in diesem Zusammenhang eine funktionierende Koordination gibt, und die Bundesregierung wird daher, gemeinsam mit den drei hauptbetroffenen Landeshauptleuten, ab sofort in Permanenz tagen. Die Spenden werden zentral koordiniert, die Hilfe wird zentral koordiniert und ausgezahlt.

Wir werden so lange nicht zur Tagesordnung übergehen, als nicht aus den Fluten wieder Wohnungen und Felder, Betriebe und Dörfer entstanden sind.

Österreich wird sich dieser Aufgabe mit ganzer Entschlossenheit, Energie und Optimismus widmen. Wir werden uns dabei nicht ablenken lassen, wir werden nicht nachlassen, alle Hebel in Bewegung setzen – und hoffentlich nicht in parteipolitischem, kleinem Tagesstreit hängen bleiben.

Und wenn wir das tun, meine Damen und Herren, dann werden wir gemeinsam auch gegen diese Fluten gewinnen!