Französischer Außenminister ruft die EU zur politischen Einigung auf  

erstellt am
01. 10. 03

Villepin betont Österreichs Stellenwert im Erweiterungsprozess
Wien (pk) - Der französische Außenminister Dominique de Villepin erklärte im Rahmen seines Vortrages: Meine Damen und Herren! Es ist mir eine Freude, heute in Ihrer Mitte zu weilen, und ich danke Ihnen für die besondere Ehre, die Sie mir erweisen, indem Sie mich in diesem großartigen Rahmen, im Herzen Ihrer Demokratie und Ihres politischen Lebens, empfangen. Diese Freude empfinde ich umso lebhafter, als dieser Besuch zu einem entscheidenden Zeitpunkt im so oft bewegten Schicksal unseres europäischen Kontinents erfolgt.

Mit dem Entwurf einer Verfassung hat Europa sich ein neues Ziel gesteckt und will nicht mehr nur eine wirtschaftliche Großmacht sein, die sich auf einen gemeinsamen Markt und eine gemeinsame Währung gründet. Europa hat seine Rolle auf der internationalen Bühne voll wahrzunehmen, um zu jenem politischen Akteur zu werden, den alle Partner der Union weltweit herbeiwünschen. Jedes Mal wenn Europa sich neuen Perspektiven öffnet, macht es einen Schritt voran. Mut und Erfindungsreichtum sind die Bedingungen seiner Existenz.

Gerade hier in Wien, in dieser kosmopolitischen Stadt, die Montesquieu mit einem modernen Babel verglichen hatte, möchte ich wieder einmal der Hoffnung einer Öffnung Europas zur Welt Ausdruck verleihen. In dieser Hauptstadt europäischer Kultur möchte ich auf die gemeinsame Geschichte unserer beider Länder zu sprechen kommen, eine Geschichte, die erkennen lässt, wie dringend wir Europa brauchen.

Ist die Geschichte unseres Kontinents nicht die eines langen Lernprozesses, einer Alchimie, die Unterschiedlichkeit zu Komplementarität werden ließ? Der Reichtum unserer heutigen Vielfalt liegt doch gerade in der endlich wieder gegebenen Möglichkeit, unsere Differenzen auszuleben, anstatt uns in ihrem Namen zu entzweien.

Die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern geben ein Bild dieses gemeinsamen Weges durch die Jahrhunderte.

Gemeinsam ist uns das Erbe einer ruhmreichen Vergangenheit, jener zweier europäischer Großmächte. Lange Zeit blickte das französische Königreich auf das habsburgische Kaiserreich. Als Nachfolger des Heiligen römischen Reichs deutscher Nation übte dieses Reich auf uns eine starke Faszination aus, von Victor Hugo bis zu Napoleon, der davon träumt, in Aachen gekrönt zu werden. Von Kaiserreich zu Kaiserreich verbanden uns die Hegemoniebestrebungen unserer beiden miteinander rivalisierenden Mächte.

Unsere beiden Hauptstädte tragen die Spuren dieser großartigen Geschichte. Sie kann überall abgelesen werden, in der Prunkentfaltung der eng miteinander verwandten Schlösser Versailles und Schönbrunn, in der architektonischen Prägung von Paris durch Haussmann ebenso wie im kaiserlichen Wien, das sich in konzentrischen Kreisen rund um die Ringstraße entfaltete.

Durch unsere Kultur drücken wir spiegelbildliche Indentitäten aus.

Im 17. Jahrhundert spiegelte die französische Klassik eine Geistesprägung wider, die durch kartesianische Rationalität und den Kult des Willens bei Corneille bestimmt war; das habsburgische Barock hingegen war Ausdruck des Triumphs der katholischen Gegenreformation, die in einer für alle Sinnesfreuden offenen Kultur erlebt wurde: Man denke nur an die Ausschmückung der Nationalbibliothek oder des Stiftes Melk. Auch auch in unseren Werken kam unsere Angst vor ungewissem Schicksal zum Ausdruck. Und es sind schließlich die Romane Robert Musils, die das Ende des Habsburgerreiches und damit auch die epochalen Veränderungen für ganz Europa am besten verständlich erscheinen lassen. Die gequälten Körperdarstellungen Schieles, die in weich fallende Stoffe gehüllten Figuren Klimts und die grellen Farben der Fauvisten bieten uns die gleichermaßen übersteigerte Wahrnehmung einer Welt, die dem Zweifel erliegt.

Unsere beiden Kulturen, die einander stets wahrnahmen, wurden durch ungewöhnlich intensive Austauschbeziehungen gestärkt.

Von der Modernität der Zauberflöte im höchsten Maße angetan hat Frankreich nie seine leidenschaftliche Liebe zu Mozart verleugnet. Unsere Bewunderung für die österreichische Musik hat auch unsere eigene Geschichte geformt, von unserer Liebe zu Schubert bis hin zur unübertroffenen Neuinterpretation der Werke Schönbergs und der Wiener Schule durch Pierre Boulez. Lange bevor eine große Ausstellung im Centre Pompidou die Wiener Moderne würdigte, hatten Rodin und die Künstler der Sezession intensive und fruchtbare Beziehungen geknüpft. Diese gegenseitige Bereicherung unserer Kulturen setzt sich heute in jenen ausdrucksstarken Seiten fort, die Peter Handke den sich selbst überlassenen Pariser Vororten widmet sowie in der Interpretation des selbstquälerischen Stils Elfriede Jelineks durch Isabelle Huppert, unter der Kameraführung und Regie des Österreichers Michael Haneke.

Auch in den Verletzungen, die sie uns zugefügt hat, einigt uns die Geschichte: zuerst Krieg; danach die erlebte Barbarei.

Eine Tatsache lässt sich nicht verleugnen: Der Gegensatz zwischen unseren Ländern hat Europa Jahrhunderte lang in Kriege gestürzt. Nur, konnten denn zwei katholische Anwärter auf die europäische Hegemonie sich anders verhalten? Durch die – glücklicherweise - erfolgte Umkehrung der Allianzen fanden wir uns zuletzt vereint und Europa erlebte 30 Jahre des Friedens und der Prosperität. Es bedurfte der mutigen Entschlossenheit eines Duc de Choiseul und eines Grafen von Kaunitz, um dieses revolutionäre Umdenken in die Tat umzusetzen, doch sollte es von kurzer Dauer sein. 1815 vermeinte Fürst Metternich in Wien ein Gleichgewicht dadurch zu schaffen, dass er die Rivalität unserer jeweiligen Machtbestrebungen organisierte. Ein Jahrhundert später dachte man in Versailles jede Art von mörderischer Auseinandersetzung auf europäischem Boden ausgeschlossen zu haben. Doch konnte man auf beiden Seiten, bei Stefan Zweig ebenso wie bei Roman Rolland, eine Vorahnung der Bedrohung des Friedens erkennen und war erfüllt vom gleichen Grauen vor Krieg und den mit ihm heraufziehenden Schrecken.

Die Geschichte unserer beider Länder ist auch mit dem Makel der Barbarei behaftet. Ich denke an all jene, die, wie Joseph Roth oder Soma Morgenstern vor der Bedrohung durch die Naziherrschaft ins Exil gehen mussten. Viele von ihnen fanden Zuflucht in Frankreich, von wo sie jedoch der Krieg wieder vertrieben und einem neuen Schicksal überlassen hatte. Wir wissen, dass in Frankreich wie in Österreich manche Seiten unserer Geschichte uns Verantwortung für schwere Schuld zuweisen. Wir wissen auch, dass Intoleranz, Fremdenhass und die hasserfüllte Ablehnung des Anderen stets neu aufkeimen können. Im Bewusstsein dieser Anfälligkeit ermessen wir die Pflicht der Erinnerung, die wir zu erfüllen haben.

Diese Verletzungen waren es, die unseren Willen gestärkt haben, ein wirklich europäisches Schicksal zu begründen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt sich das Bewusstsein der Notwendigkeit eines vereinten Europas durch. Denken wir an den Weitblick des Generals Bethouart, der in seinem Buch „Combat pour l’Autriche“zum Ausdruck kommt. Indem er die Österreicher Tirols an der Erfüllung seines Mandats teilhaben ließ, schmiedete er mit ihnen Bande der Freundschaft, an die sie sich noch 50 Jahre, nachdem er das Land verlassen hatte, bewegten Herzens erinnern. So verlieh er dem Geist der Aussöhnung Ausdruck durch die Anregung zur Gründung der Bregenzer Festspiele und setzte sich für die Gründung des Lycée francais und des französischen Kulturinstituts in Wien ein, Institutionen, die heute noch unsere Freundschaft und die Verbindung unserer jeweiligen Identitäten lebendig erhalten.

Wir durchleben jetzt eine Zeit der Prüfungen. In der Ungewissheit, in der wir uns jetzt befinden, denke ich oft an Stefan Zweig, der, den Schuss erwähnend, der in Sarajewo im Juni 1914 gefallen war, sinngemäß sagt, dass durch diesen Schuss die Welt der Sicherheit, der schöpferischen Vernunft, in der er aufgewachsen war, wie ein hohles Gefäß in tausend Stücke zerschmettert worden war. Mit dem Fall der Berliner Mauer und, vor kurzer Zeit, den Attentaten des 11. September haben wir das Ende einer Welt erlebt. Wir sind nun auf der Suche nach schlüssigen Zusammenhängen. Wir müssen verstehen können, worum es nun geht und welchen Bedrohungen wir uns stellen müssen.

Die Welt ist heute durch Attentate und terroristische Gewalt gefährdet. Von Djakarta bis Bagdad, von Casablanca bis Jerusalem verbreitet der Terrorismus, jedes Mal wenn er zuschlägt, Leid und Angst. Die Wunden, die er zufügt, sind heute wohl die vordringlichste Herausforderung. Indem er weltweit die Sicherheit untergräbt, trifft er blindlings unschuldige Zivilisten, aber auch Institutionen, die, wie die UNO, gerade jene Werte vertreten, zu denen sich die internationale Gemeinschaft bekennen sollte.

Die Drohung des Terrors ist umso gefährlicher, als sie sich die Entregelung einer Weltordnung, die erst im Entstehen begriffen ist, zunutze macht. Indem der Terror alle Möglichkeiten einer global gewordenen Welt einsetzte und sich der modernsten Technologien bediente, gelang es ihm, die weltweite Beschleunigung zu seinem Vorteil zu wenden. Auch Lücken und Brüche im internationalen System weiß er zu nutzen, denn regionale Krisen, verwundete oder verarmte Bevölkerungen, rechtsfreie Gebiete, illegaler Handel stellen jenen Untergrund dar, auf dem Terrorismus entsteht und gedeiht. Dazu kommt erschwerend der Umstand, dass der Terrorismus mit der Verbreitung der Massenvernichtungswaffen seine Fähigkeit, Schaden zuzufügen, verzehnfachen kann.

In dieser unsicheren Welt erleben wir das Auftreten neuer Bestrebungen und Gegebenheiten. Das Streben nach Identität, die Forderung nach kultureller Eigenständigkeit, der religiös bestimmte Fundamentalismus treten heute mit Nachdruck, manchmal auch mit großer Heftigkeit auf. Auf dem Balkan und in Afrika flackern interethnische Konflikte wieder auf. An den Krisen, die die arabische Gemeinschaft in unversöhnliche Lager trennen, ermessen wir die Bedeutung dieser neuen Komponenten der internationalen Strategie.

Machen wir uns nichts vor: Die Welt von heute kann nicht mehr mit bloßer Waffengewalt beherrscht werden. Die Machtverhältnisse haben sich von Grund auf gewandelt und übersteigen jetzt das wirtschaftliche, demographische, militärische oder technologische Gewicht eines Landes. Schon Joseph Roth erklärte, dass die politischen Grenzen keine Punkte, Striche, Linien auf einer Karte mehr seien, sondern Streit, Kreuzweg, Passion, Golgotha und Kreuzigung.

In diesem Kontext kann jeder ermessen, wie sehr heute die Konfrontation zwischen Kulturen und Religionen zu einem der komplexesten Risken geworden ist, denen wir ausgesetzt sind. Sie ist die eigentliche Herausforderung , die hinter den Krisen unserer Zeit erkennbar wird, vornehmlich im Hintergrund der Irakkrise und der Krise im Nahen Osten. In beiden Fällen stellt die Souveränität der betroffenen Völker einen der Ecksteine der Rückkehr zu Frieden und Stabilität dar. Das gilt für den Irak, wo eine Mobilisierung der Bevölkerungen dieses Landes gegen Gewalt und für den Wiederaufbau nur dann erhofft werden kann, wenn ihnen die Möglichkeit eingeräumt wird, über ihr eigenes Schicksal selbst zu bestimmen. Das Gleiche gilt für den Nahen Osten, denn in der Bestätigung eines voll verantwortlichen palästinensischen Staates, der Israel partnerschaftlich gegenübersteht, liegt der Schlüssel eines dauerhaften Friedens.

Wer weiß besser als Europa Bescheid über die Bedeutung von Identitäten und Kulturen? Wir haben in Frankreich Bruderkriege gekannt. Wir haben auch verbissene Identitätssuche gekannt, in dem Maße als wir mehrmals für Elsass-Lothringen gekämpft haben. Eben diese Bedeutung kultureller, religiöser, sprachlicher Identitäten kennen auch Sie als Nachfolger eines Reiches, dessen Hymne in elf Sprachen gesungen wurde.

Angesichts dieser Gefahren gilt eine Feststellung, nämlich dass die Zeit drängt, und eine Überzeugung, nämlich dass es notwendig ist zu handeln. Unsere Welt kann sich nicht mehr mit Ausflüchten zufrieden geben; sie braucht Führung, eine neue Definition ihrer Ziele und neuen Schwung. Verlässt man sich zu sehr auf ungewisse diplomatische Lösungen, besteht die täglich wachsende Gefahr, tiefer in den Konflikten zu versinken, die unsere Welt von innen zerstören und ihren Zusammenhalt gefährden. Alle gemeinsam müssen wir die Gefahren, denen unsere Welt ausgesetzt ist, erkennen, um gemeinsam die erforderlichen Gegenmaßnahmen zu setzen.

Wie könnte dies erfolgen, wenn nicht durch die Einheit unserer internationalen Gemeinschaft, die die einzige Antwort auf die globalisierte Welt darstellt, eine Welt, in der jeder Konflikt, der in einem Teil unserer Erde aufflammt, augenblicklich den Rest der Welt betrifft? Die Stoßwellen, die vom anderen Ende der Welt kommen, erschüttern unsere Gesellschaften und erinnern an die Aussage von Paul Valery, der erklärte, dass der Widerhall der Kanonen von Verdun bis zu den Antipoden zu vernehmen war.

Diese unabdingbare Einheit hat somit all unser Tun zu leiten. Immer mit dem Bestreben, die Werte und Prinzipien zu verteidigen, denen wir uns vorrangig verpflichtet fühlen müssen: Gerechtigkeit und Solidarität mit den Völkern, die unter Armut oder Gewalt leiden, Dialog mit und Achtung des Anderen, denn keine unserer Kulturen, keine unserer Religionen, keine Zivilisation darf sich über die andere erheben, schließlich die Verteidigung des Rechts und der ethischen Grundwerte, ohne die unsere Initiativen keinerlei Akzeptanz finden werden. Diese notwendige Einheit und Einigkeit der internationalen Gemeinschaft gilt es zu fördern, denn allein durch sie erfährt unser Handeln Legitimität, und wird somit unser Tun wirklich effizient.

Und wie sollten wir – angesichts der Bedrohungen, die rund um uns bestehen – nicht erkennen, wie dringlich die Wiederherstellung einer multilateralen Ordnung ist, die mit ihrer Stärke und ihrer Dynamik den Krisen der Welt zu begegnen vermag? Im Irak, im Nahen Osten, in Afghanistan wie auch in den Ländern des Balkan wird nur eine multilaterale Zusammenarbeit zu dauerhaften Lösungen führen, woraus neue Stabilität und Prosperität wachsen kann. Kriege kann man allein gewinnen; den Frieden wird niemand von uns allein wieder herstellen können. Nur der Zusammenhalt aller unserer Länder wird uns ermöglichen, den Terrorismus, die Entwicklung, ja Auswucherung der Netze des organisierten Verbrechens anzugehen und zu besiegen; es gibt keine andere Alternative.

Diese Überzeugung meines Landes entspringt nicht einem Gedanken der Rache oder Willen zur Vergeltung, wie so manche Beobachter wiederholt zu Unrecht feststellen,; sie entwächst der klarsichtigen Analyse unserer Welt. Seien wir uns doch der Tatsache bewusst, dass die realen Gegebenheiten der globalisierten Gesellschaft, in der wir leben, uns keinen Spielraum mehr geben, allein zu handeln, wollen wir nicht Misserfolge ernten oder in der Sackgasse landen. Wenn Frankreich von einer multipolaren Welt spricht, so ist dies lediglich die Feststellung der vorliegenden Situation: die kürzlich in Cancun geführten Verhandlungen zeigten deutlich, dass vermehrt regionale Machtpotenziale auf den Plan treten, die entschlossen sind, ihre Interessen und Rechte zu verteidigen. Dies ist die Realität und ausgehend von dieser haben wir die Verantwortung, zu einem in Richtung auf eine echte Weltdemokratie fortzuschreiten, damit jeder in der internationalen Ordnung seinen Platz findet, gleichzeitig aber auch weiterzubauen an einem unilateralen System, dem allein es gelingen wird, Kooperationsbrücken zwischen den verschiedenen Polen der Welt zu errichten.

In diesem zerbrechlichen, mit Unsicherheit belasteten Weltgefüge kann und muss Europa seine eigenen Antworten einbringen.

Zunächst weil Europa ein Pol der Stabilität ist. Diese Stabilität hat die Verpflichtung, Europa über seine Grenzen hinauszutragen. Der Balkankrieg hat Europa begreifen gelehrt, dass es zur Tat schreiten muss, um die Massaker vor seinen Türen zu unterbinden. Wir wissen, wie hautnah Österreich die Gräuel dieses Kriegs erlebt hat, der nur wenige hundert Kilometer von Wien wütete.

Im Kosovo, aber auch in Mazedonien spielt Europa heute eine wesentliche Rolle bei der Stabilisierung einer Region, deren Wunden noch nicht vernarbt sind. Europa setzt sich ein für Versöhnung, denn nur Versöhnung bringt Frieden unter den Völkern und eröffnet Aussicht auf eine bessere Zukunft.

Wir tragen Verantwortung und sind dieser verpflichtet, auch weil Europa, die Wiege der Menschenrechte, der Unterdrückung gegenüber nicht gleichgültig bleiben darf. Ich begrüße und würde den warmherzigen und einsatzbereiten Empfang, den Sie – getreu Ihrer Tradition der Öffnung und Offenheit – den zwei Millionen Flüchtlingen aus Osteuropa nach 1945 bereitet haben. Mit großer Bewegung denke ich an die 500.000 Juden, die damals aus der Sowjetunion flüchteten und in Österreich ihre Freiheit wieder gefunden haben. Ich weiß auch um den tatkräftigen Einsatz Ihres Landes für bosnische Flüchtlinge im Zuge der Belagerung von Sarajewo. Gemeinsam haben wir mit der Europäischen Menschenrechtscharta einmal mehr zum Ausdruck gebracht, dass wir der Wahrung der universellen Grundwerte anhängen. Gemeinsam wollen wir den Erfolg des Internationalen Strafgerichtshofs sichern. Aber wir müssen noch weiter gehen und – vor allem in der UNO – Instrumente bauen, die der Welt den Weg zu mehr Gerechtigkeit und Freiheit ermöglichen.

Schließlich ist Europa berufen, den Dialog zwischen den Kulturen wiederherzustellen, als Brücke zwischen mehreren Kontinenten, mehreren Religionen, mehr als einer geschichtlichen Entwicklung. Europa muss zu jenem Mediator werden, den es braucht, um das Verständnis der Völker füreinander zu befördern. Frankreich weiß sehr gut, worum es geht, hat die Geschichte diesem Lande doch erlaubt, enge Bande, ja fast Blutsbande mit Afrika zu knüpfen. Zusammen mit den europäischen Anrainerstaaten des Mittelmeerraums haben wir die Aufgabe, vermehrt Brücken zu schlagen zwischen den beiden Küsten, immer mit dem Blick darauf, was Jahrhunderte lang unsere beiden Welten fruchtbringend bereicherte: Teilung und Austausch.

Mit der vollen Kraft seiner Überzeugung in den verschiedensten Bereichen muss Europa nunmehr vorwärts gehen auf dem Weg zur politischen Einigung.

Zunächst gilt es, die anstehende Erweiterungsphase zum Gelingen zu bringen. Österreich hat in diesem Prozess einen ganz wesentlichen Stellenwert. Unter der Präsidentschaft Österreichs wurden die Verhandlungen mit jenen Ländern aufgenommen, die wir demnächst in die Union aufnehmen werden. Sie sind umgeben von vier dieser neuen Mitglieder und setzen so eine Tradition der regionalen Zusammenarbeit fort, an der sich Europa ein Beispiel nehmen muss. Dieser Berufung als Gesprächspartner und Mittler mit und für die osteuropäischen Länder sind Sie bereits in der Zeit des Kalten Krieges nachgekommen. Das Österreich unter Bruno Kreisky, dann unter Alois Mock war – wie Jacques Delors es formulierte – „ein Leuchtturm der Freiheit“ für seine Nachbarn im Ostblock. Über ihre wirtschaftlichen, aber auch kulturellen Verbindungen bestätigten und bekräftigten Sie die Zugehörigkeit des „gekidnappten Kontinents“ zu Europa, und wir teilen Ihre Begeisterung über das nunmehr bevorstehende endlich vereinte Europa.

In einem Europa der 25 müssen wir uns dann einfachere und effizientere Institutionen geben. Darum geht es im Verfassungsentwurf, der vom Konvent unter dem Vorsitz von Valery Giscard d`Estaing ausgearbeitet wurde. Die in den nächsten Tagen mit der Regierungskonferenz beginnende Diskussion hierüber wird ausschlaggebende Bedeutung haben. Wir müssen diese beginnen im Geiste des gegenseitigen Vertrauens und der Verantwortung füreinander, wenn wir das Gleichgewicht erhalten wollen, zu dem die Arbeiten des Konvents gefunden haben. Ich weiß um Ihre Vorbehalte, ich kenne Ihre Zweifel, und kein Land wüsste besser Bescheid um die prinzipiellen Anliegen, die Österreich so stark am Herzen liegen, als mein Land, dem es oblag, die schwierigen Verhandlungen zum Vertrag von Nizza zu führen. Ich bin aber überzeugt, dass uns Einigung gelingt bezüglich der Notwendigkeit, unseren europäischen Institutionen jene Transparenz und Flexibilität zu verleihen, die erforderlich sind, damit unsere Bürger sie begreifen, anerkennen und akzeptieren. Keinen Platz gibt es in der Europäischen Union für Opposition zwischen „großen“ und „kleinen“ Ländern. Sie selbst sind seit 1995 einen Weg gegangen, der beweist, dass jeder einzelne Kraft seiner Erfahrung und Identität berufen ist, Europa voranzubringen. Somit verbleibe ich in meiner Überzeugung, dass wir gemeinsam den Weg finden werden zu einem Abkommen, das die Europäische Union mit den erforderlichen starken, haltbaren und demokratischen Institutionen ausstattet.

Bekräftigen wir letztendlich unsere Präsenz auf der internationalen Bühne mit Hinblick auf zwei vorrangige Ziele.

Zunächst durch eine echte europäische Außenpolitik. Dies ganz im Sinne des Verfassungsentwurfs, der insbesondere die Ernennung eines – dem Parlament sowie der Kommission gegenüber verantwortlichen – Außenministers vorsieht. Dies ist neu, entspricht aber einer dreifachen Notwendigkeit: Erleichterung der Beziehungen mit unseren Partnern in der internationalen Gemeinschaft, Verbesserung der Transparenz unserer Außenpolitik, erhöhte Kohärenz von Auftreten und Maßnahmen der Europäischen Union in der Welt.

Weiters gilt es, die Entwicklung einer echten europäischen Verteidigungspolitik zu fördern. Wir kennen die spezifische Haltung Österreichs in dieser Sache und werden sie selbstverständlich respektieren. Jedoch sehen wir tagtäglich, dass die zunehmende Zahl der regionalen Krisen ein stärkeres Engagement seitens unserer Union erfordert. Nach seiner Präsenz in Afghanistan und im Balkan mit unseren amerikanischen Freunden hat Europa mit seiner eigenständigen Militäroperation in Zentralafrika, in der Provinz Ituri, einen entscheidenden Schritt gesetzt. Wir müssen uns in die Lage versetzen, gemeinsam zu handeln, um mit dieser Kraft den Anforderungen der Welt von heute zu begegnen. Wenn Europa seine Kräfte bündelt, wird es Krisen bewältigen können. Wenn Europa seine zivilen Kräfte mobilisiert, wird es tatkräftig wirken können an der Prävention von Konflikten und der Aufrechterhaltung des Friedens. Dieses zielorientierte Bestreben möchten wir mit allen Staaten teilen: die seitens Deutschland, Belgien, Luxemburg und Frankreich im letzten Frühjahr unterbreiteten Vorschläge stehen allen offen; mit dem Vereinigten Königreich, das seit dem Gipfel von Saint-Malo eine wesentliche Rolle in diesem verpflichtenden Unterfangen übernommen hat, wollen wir dem Europa der Verteidigung einen entscheidenden Impuls geben. Unsere kürzlichen Gespräche diesbezüglich bestätigen unser gemeinsames Wollen.

Europa muss aber auch zusammen mit der internationalen Gemeinschaft der Herausforderung begegnen, die Frieden heißt.

In den transatlantischen Beziehungen sucht Europa einen zuverlässigen Partner, der seiner Verantwortung und den daraus erwachsenden Aufgaben nachkommt. Ein Europa, das mehr Verantwortung übernimmt, kann in Zukunft seinen Beitrag leisten zur Bewältigung der Risiken eines Einsatzes in der Welt. Zwischen Europa und den Vereinigten Staaten kann es Divergenzen, Missverständnisse geben. Daran ist nichts verwunderlich: Unsere gemeinsame Geschichte entwickelte sich langsam hin auf oft unterschiedliche politische, wirtschaftliche und soziale Sachlagen; unsere Weltanschauungen decken sich auch nicht immer. Ist das beunruhigend? Ich denke nicht: Jenseits aller Unterschiedlichkeit treffen wir uns in ein und derselben Wertegemeinschaft mit dem Anliegen der Verteidigung der Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte. Und genau darin liegt das grundlegend Verbindende über alle Unterschiedlichkeit hinaus.

Mit den anderen großen Polen – Asien, Lateinamerika, Afrika – möchte Europa echte Kooperationsschienen errichten durch die Beibringung europäischen Know-hows, europäischer Mittel und vor allem dadurch, dass wir mit Aufmerksamkeit hören. Wir müssen den in der ganzen Welt Platz greifenden dynamischen Prozess regionaler Zusammenschlüsse fördern, denn er bewirkt Stabilität und Demokratisierung. Auch regionale Organisationen sind legitimierte Verantwortungsträger mit dem Auftrag, regionale Konflikte zu lösen. Augenfällig wurde dies für uns durch den Beitrag der ECOWAS-Staaten bei der Suche nach einer politischen Lösung in der Elfenbeinküste und vor einigen Wochen zur Befriedung Liberias.

Im multilateralen Gebäude muss sich Europa schließlich einsetzen für die Stärkung und die Erneuerung der Institutionen, damit die neuen Anforderungen in der Welt gemeistert werden können. Haben wir nicht im Verlauf der 50 Jahre unseres politischen Bestehens gelernt, dass Konzertierung und Dialog uns am besten zu effizienten und für alle akzeptierbaren Lösungen führt? Heute entgleiten immer mehr Bereiche der alleinigen Kontrolle durch den Staat – man denke an Umweltfragen, Probleme in Verbindung mit Wirtschaftswachstum und Sicherheit. Arbeiten wir doch Hand in Hand und denken wir gemeinsam nach über Reformen, die wir insbesondere im Rahmen der Vereinten Nationen fördern könnten, wie etwa die erweiterte Zusammensetzung des Sicherheitsrates, die Einrichtung neuer Organe zur Förderung einer echten Steuerung der Weltwirtschaft bis hin zu einer authentischen Besinnung zu Gunsten der nachhaltigen Entwicklung, zur Stärkung der der internationalen Gemeinschaft zur Verfügung stehenden Instrumente zur Wahrung und Verteidigung der Menschenrechte, oder auch zum Kampf gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen.

Frankreich und Österreich sind Erben dieses alten Europa, dessen Geschichte durchwirkt ist mit Streitfällen und Entzweiung, aber sie leben von Neubeginn und Versöhnung.

Wir wollen heute unsere Schritte vorwärts lenken und zugehen auf einen neuen Horizont – zunächst gemeinsam bauen an dieser Union, in der sich die europäische Familie heute endlich vereint zusammen findet. Diese wieder gefundene Einheit eröffnet uns eine historische Chance, gleichermaßen für unsere Generation eine Aufgabe: uns virulent einzusetzen für die Werte, die dem Projekt Europa zugrunde liegen, damit sie neu lebendig werden und wir sie so in das Herz einer neuen Weltordnung tragen.

Österreich und Frankreich haben die Kraft der Erfahrung und wissen, dass sie einander ergänzen, somit tragen unsere Länder eine besondere Verantwortung in der Umsetzung eben dieses gemeinsamen Ziels. Das Erfolgspotential ist beiden Ländern gegeben: Hellhörigkeit für laufende Veränderungen, die Anpassung und Reaktion erfordern; unser gemeinsamer Ruf nach Gerechtigkeit zur Linderung der Leiden einer schmerzgeprüften Welt; unser unabdingbarer Wille zum Dialog. Nehmen wir diese Herausforderung an: Unsere Geschichte ist so reich, wir sind ihr verpflichtet.

Dominique Galouzeau de Villepin, der die Ecole nationale d´administration absolvierte, trat 1980 in die Abteilung für afrikanische Angelegenheiten im französischen Außenministerium ein. Nach Aufenthalten in Washington und Neu Delhi avancierte er zum Generalsekretär des Präsidialamtes (1995 bis 2002). Am 17. Juni 2002 wurde er schließlich zum Minister für auswärtige Angelegenheiten ernannt.
     
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