Retrospektive Carl Mayer  

erstellt am
03. 11. 03

Präsentiert vom Filmarchiv-Austria, 8. bis 19. November 2003, Metro Kino
Wien - Mit Carl Mayer steht erstmals ein Autor im Mittelpunkt einer Filmarchiv-Retrospektive. Mayer, gebürtiger Grazer, war ein zentraler Filmkünstler des Weimarer Kinos. Seine Fähigkeit, in Bildern zu denken, den Rhythmus der Kinematografie schon im Drehbuch vorzugeben und darin präzise und verbindliche Vorlagen für die Regie zu liefern, machten ihn zu einem kongenialen Partner von Regisseuren wie Lupu Pick, Robert Wiene und vor allem Friedrich Wilhelm Murnau. Basierend auf den von SYNEMA für Graz 2003 konzipierten Carl-Mayer-Projekten stellt die Retrospektive einen repräsentativen Überblick zu Mayers Gesamtwerk - von den Klassikern des Filmexpressionismus bis zu den Arbeiten im englischen Exil - dar.

Zahlreiche Filme werden in neu restaurierten Versionen vorgestellt, u.a. die österreichische Erstaufführung der großartigen restaurierten Version von SYLVESTER aus dem National Film Center in Tokyo. Sämtliche Stummfilme werden mit Live-Musik von Gerhard Gruber und Chrono Popp&Hans Holler begleitet.

Die Veranstaltung findet in enger Kooperation mit SYNEMA und der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung/Wiesbaden statt.

Carl Mayer - Poet des Films
von Jürgen Kasten

Die Filmgeschichte kennt Drehbuchautoren bisher nur dem Namen nach. Das trifft sogar auf den bekanntesten deutschsprachigen Filmautor zu: Carl Mayer. Sein Gesamtwerk ist in der konkreten Ausformung der Drehbücher wie in deren filmevozierender Wirkkraft noch wenig geläufig. Dabei wäre im Werk dieses überragenden Drehbuchautors, der den deutschen Film der Jahre 1919 bis 1925 ganz wesentlich mitprägte, eine eigenständige Erzähl- und Bildästhetik ohne weiteres erkennbar, die den klassischen Regisseuren des Weimarer Kinos zugestanden wird. Vielleicht trägt der noch frische Blick der New Film History dazu bei, Filme auch in ihren arbeitsteiligen Herstellungs- und Werkschritten wahrzunehmen. Das müsste dann eigentlich dazu führen, Mayer etwa gleichrangig mit Friedrich Wilhelm Murnau zu sehen, seinem wichtigsten Regisseur, für den er sieben Filme entworfen hat. Denn noch verstellt der verdiente Nachruhm, mit dem die visuelle Eleganz dieses Regisseurs gewürdigt wird, den Blick auf das genauso beeindruckende Werk des österreichischen Drehbuchautors.

Carl Mayer wurde am 20. Februar 1894 in Graz geboren. Das Gymnasium muss er abbrechen, weil sein Vater das Schulgeld nicht mehr zahlen kann. Schon früh macht er Erfahrungen mit sozialen Verwerfungen und Abstieg. Ein Trauma, das ihn in fast allen seinen späteren Filmen verfolgen wird. Kaum 17-jährig, arbeitet der junge Carl Mayer als Statist und Bühnenarbeiter am Theater in Graz, dann in der Provinz, später geht er nach Innsbruck und versucht sich als Kunstmaler in Wien. 1916 kommt er nach Berlin und erhält ein festes Engagement am Residenz-Theater, eine Unterhaltungsbühne in der östlichen Vorstadt. Es dauert bis zum 19. April 1919, als Mayer zusammen mit seinem Co-Autor Hans Janowitz den Vertrag für einen Film unterzeichnen kann. Das Drehbuch trägt den Titel "Das Cabinet des Dr. Caligari" und macht auch den Autor schlagartig bekannt.

Mayer verfasst in der Folge Drehbücher, die ähnlich wie CALIGARI krude schauerroman-tische Momente in das Melodrama einweben und diesem damit fast tragödienhafte Züge geben. DER BUCKLIGE UND DIE TÄNZERIN, JOHANNES GOTH, GENUINE, TORGUS oder GRAUSIGE NÄCHTE, alle 1920 realisiert, weisen eine erzählerische, figurale und visuelle Konzentration auf innerhalb eines bis dato eher durch zentrifugale, ausschmückende Motive abgesteckten Genrerahmens.

Was Mayer mehr und mehr interessiert, sind die verinnerlichten Normen und Zwänge der Figuren, die individuellen Ausprägungen nur wenig Raum lassen. Zentrales Thema ist dieser Motivaspekt in der so genannten Kammerspielfilm-Trilogie, in SCHERBEN (1921), HINTERTREPPE (1921) und SYLVESTER (1923). Aufgrund der Wahl einer bisher im deutschen Film nur selten psychologisch betrachteten Personengruppe, nämlich den proletarisch-kleinbürgerlichen Figuren, der genauen sozialen Grundierung des Konflikts und der daraus resultierenden mikrokosmischen Betrachtungsweise bekommen diese Filme eine im deutschen Film damals weitgehend unbekannte realistische Tendenz. Carl Mayer vollzieht von den expressionistischen Filmen ausgehend über die Kammerspielfilme bis zu DER LETZTE MANN (1924) in einem Zeitraum von nur fünf Jahren fast die gesamte Palette filmischer Stilmöglichkeiten. Kaum ein Regisseur hat mit vergleichbarer Innovationshaltung auf die sich schnell verändernden erzählerischen, bildgestalterischen und filmtechnischen Anforderungen dieser Zeit reagiert und dabei doch stets seinen persönlichen Stil und sein spezifisches Darstellungsinteresse bewahrt. Alle diese Aspekte fließen zusammen in seinem immer stärker auf Perfektion drängenden Bestreben, ein Menschenschicksal mit puren visuellen Mitteln zu gestalten.

Carl Mayer verzichtet fast vollständig auf erklärende Zwischentitel, was in den 20er-Jahren weder angestrebt noch üblich ist. Und er gibt auch den Figuren nur spärliche Redemöglichkeiten. Die agieren häufig stumm, was auch für den Stummfilm als szenisch-dramatische Situation ungewöhnlich war. Besonders deutlich wird dies in SCHERBEN, wo das schroff abgegrenzte Einzelbild dominiert. Die Vereinzelung der Figuren wird so überdeutlich. Sie bestimmt Dramatik, Rhythmus und Stil des Films. In SYLVESTER setzt Mayer dem archaisch anmutenden Konflikt eines familiären Eifersuchtsdramas kontrapunktisch den teilnahmslosen Amüsierbetrieb der Großstadt sowie Symbolaufnahmen von Naturbildern entgegen.

In DER LETZTE MANN wird die Kamera nicht nur zum Schwungrad eines sozialen Abstiegs, sondern sie zwingt auch die Aufnahmeapparatur zu atemberaubenden Aktionen. Zwar ist die bewegte Kamera seit Beginn der Filmgeschichte bekannt, dramatisch entfesselt, d. h. konsequent zur Figurenzeichnung und zur Enthüllung eines menschlichen Schicksals hat sie der Drehbuchautor von DER LETZTE MANN aber ein für alle Mal durchgesetzt. Mayer und sein Regisseur F. W. Murnau erzählen die Alltagsgeschichte eines zum Toilettenmann ,degradierten' Kleinbürgers in beeindruckender Fluidität, visueller Prägnanz und Eleganz.

Mayer ist ein Autor, der in Bildern denkt, der präzis das Einzelbild zu umreißen und dessen Stellenwert für die Entwicklung einer Geschichte genau einzuschätzen vermag. Deshalb ist für ihn die Verknüpfung der Bilder genauso wichtig wie die einzelne Bildkomposition. Carl Mayers Drehbuchtexte sind Bildererzählungen, in denen der Rhythmus und die Art des Ineinandergreifens der Bilder unauflösbar verknüpft sind mit den dramatischen Vorfällen.
Seine Drehbücher erscheinen in ihrer formalen Struktur als eigenständige literarische Texte. Doch gerade in seiner stilistischen Eigenwilligkeit ist Mayer darauf bedacht, den Beteiligten des späteren Realisierungsprozesses eine präzise Beschreibung und Vorstrukturierung des Films bereitzustellen. Carl Mayer hat seit 1925 zunehmend länger an Drehbüchern gearbeitet und nur gelungene Arbeiten aus der Hand gegeben. An dem Drehbuch zu TARTÜFF (1925) schreibt er mehr als zwei Jahre. Dem Ruf nach Hollywood, den Murnau erhält, folgt Mayer nicht. Er bleibt in Deutschland, übersiedelt 1926 in ein uckermärkisches Dorf und vollendet hier das Drehbuch für die Fox-Produktion SUNRISE.

SUNRISE (1926/27) ist vielleicht der Höhepunkt der fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Mayer und Murnau. SUNRISE erscheint wie aus kinematographischem Urgestein geformt: motivisch aus Liebe und Verführung, visuell aus Ruhe und Bewegung, malerisch aus Hell und Dunkel. Der Film ist völlig auf Bildstimmung und Rhythmus aufgebaut. Gerade um letzteres ging es im Drehbuch, ist doch dessen balladenhafter Grundton nichts anderes als der Rhythmus des aufzunehmenden Films.

Für Murnaus zweiten amerikanischen Film FOUR DEVILS (1928) schreibt Mayer noch das Treatment. Die filmhistorische Legende, dieser unverwechselbare Autor des Stummfilms wäre mit dem Aufkommen des Tonfilms selbst verstummt, entbehrt jeder Grundlage. Richtig ist zwar, dass er als alleiniger Verfasser kein Drehbuch mehr herausbringt. Doch gerade mit den neuen Möglichkeiten des Tonfilms hat er sich intensiv auseinander gesetzt und als Co-Autor, Dramaturg und Drehbuchberater auch in den 30er-Jahren viele Filme mitgeprägt.

1935 emigriert Carl Mayer, wohl unter Mithilfe des befreundeten Paares Bergner/Czinner nach London. Er arbeitet an Shakespeare-Adaptionen mit, in denen Elisabeth Bergner die Hauptrolle spielt. Und auch das Drehbuch zu "Der träumende Mund" wird als DREAMING LIPS (1932) ins Englische übertragen. Auch in London arbeitet er als Drehbuchberater (nicht nur an Filmen von Bergner und Czinner, sondern auch an den G.-B.-Shaw-Adaptionen des Produzenten Gabriel Pascal und an Filmen des Dokumentaristen Paul Rotha). 1938 schreibt er sein letztes vollständiges Drehbuch "East End and the Salvation Army", das jedoch ebenso wie mindestens zwei weitere Projekte nicht realisiert wird. Mayer erkrankt in den 40er-Jahren schwer. Er stirbt in ärmlichen Verhältnissen am 1. Juli 1944 in London im Alter von nur 50 Jahren. In seinen Sarg ließ Paul Rotha das von Mayer und auch den meisten seiner tragischen Figuren bestimmt geteilte Epigramm eingravieren: "Er liebte das Leben".

Im Rahmen der Carl-Mayer-Retrospektive wird die SYNEMA-Publikation Carl Mayer Scenar[t]ist, herausgegeben von Michael Omasta, Brigitte Mayr und Christian Cargnelli, präsentiert.
 
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