»Modern Times« im historischen Kontext  

erstellt am
10. 12. 03

Wien (gartenbau) - 1911 - der amerikanische Ingenieur und Wirtschaftswissenschaftler F.W. Taylor publiziert unter dem Titel „Prinzip der wissenschaftlichen Betriebsführung“ eine Arbeit, in der er die wissenschaftliche Organisation von Arbeit theoretisch abhandelt. Der Taylorismus breitet sich zunächst über die USA aus, dann über Europa. Wie der Titel sagt, besteht die wissenschaftliche Betriebsführung darin, den Produktionsprozeß der Arbeiter wissenschaftlich zu untersuchen und davon ausgehend das Unternehmen so rationell und rentabel wie möglich zu organisieren. Taylor organisiert den Produktionsprozeß neu, indem er ihn in eine vertikale und eine horizontale Komponente aufteilt.

Vertikal heißt, Konzept und Anordnungen fallen ausschließlich in die Domäne der Unternehmensführung. Der Arbeiter ist ausführende Kraft, er wird nicht fürs Denken bezahlt. Horizontal heißt, die Arbeit ist in einfache Einzelschritte zerlegt.

1925 – Ford stellt sein zehnmillionstes Auto her (1937 wird er beim 25millionsten angelangt sein). Henry Ford, der 1903 die Ford Motor Company gegründet hat, hat Taylors Idee in zwei Bereichen in die Praxis umgesetzt, die so zur Entstehung des „Fordismus“ beigetragen haben: - die Entwicklung der Fließbandarbeit: nicht mehr der Mensch, sondern das Fließband bestimmt den Arbeitsrhythmus, und jeder ist gezwungen, damit Schritt zu halten oder er läuft Gefahr, eliminiert zu werden. Der Arbeiter ist das Instrument der Maschine. - die soziale Umsetzung der Taylorschen Philosophie: die Arbeiter von Ford sind die bestbezahlten Arbeiter der USA, nicht aus Altruismus, sondern weil Ford zurecht annahm, daß seine ersten Kunden seine eigenen Angestellten sein würden. 1930 – die große Wirtschaftskrise beginnt die USA zu erschüttern 1931 – A nous la liberté von René Clair kommt in Frankreich ins Kino 1931 – Chaplin verläßt Hollywood, um sich für achtzehn Monaten auf eine Weltreise zu begeben. Er begegnet Ghandi und Einstein und reist sehr viel innerhalb Europas. Juli 1932 – Begegnung mit Paulette Goddard 16. September 1933 – die Vorbereitungen für Modern Times beginnen Ende August 1934 – Endversion des Drehbuchs 11. Oktober 1934 – Beginn der Dreharbeiten 30. August 1935 – Abschluß der Dreharbeiten 12. Januar 1936 – Fertigstellung der Produktion 5. Februar 1936 – Welturaufführung im New Yorker Rivoli Theater 11. Februar 1936 – London-Premiere im Tivoli Theater 12. Februar 1936 – Hollywood-Premiere im Grauman’s Chinese Theater 6. März 1936 – Paris-Premiere im Théâtre Marigny _________________________________________________________________________

David Robinson – Modern Times
Modern Times setzt einen Schlußpunkt in den Auftritten der Figur des Tramp, der Charles Chaplin zu Weltruhm verhalf und der weiterhin weltweit der bekannteste Spielfilmheld der Geschichte bleibt.

Die Welt, von der sich der Landstreicher verabschiedet, unterscheidet sich grundlegend von der, in der er zwei Jahrzehnte zuvor, noch vor dem Ersten Weltkrieg, aufgetaucht ist. Zu jenem Zeitpunkt teilte und symbolisierte er das schwere Los aller sozial Benachteiligten einer Welt, die gerade das 19. Jahrhundert hinter sich ließ. Mit Modern Times stellt er sich in der Folgezeit von Amerikas Großer Depression völlig neuen Herausforderungen, als die Massenarbeitslosigkeit mit einer rasenden Entwicklung der industriellen Mechanisierung einhergeht. Chaplin ist zutiefst besorgt angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Probleme dieser neuen Ära. 1931 verläßt er Hollywood, um sich für achtzehn Monate auf eine Reise um die Welt zu begeben.

In Europa muß er zu seiner großen Beunruhigung das Aufkommen von Nationalismen und die sozialen Auswirkungen der Krise, der Arbeitslosigkeit und der Automatisierung beobachten. Er liest Bücher über Wirtschaftstheorie und entwickelt seine eigenen wirtschaftlichen Lösungsansätze; eine intelligente Übung zwischen Utopie und Idealismus, die auf einer gerechteren Verteilung nicht nur der Reichtümer, sondern auch der Arbeit basiert. 1931 sagt er zu einem Journalisten: „Die Arbeitslosigkeit ist das eigentliche Thema. Die Maschinen sollten dem Wohl der Menschen dienen, anstatt ihnen die Tragödie der Arbeitslosigkeit zu bescheren.“

In Modern Times verpackt er seine Beobachtungen und Sorgen in Form einer Komödie. Der kleine Tramp, der in den Credits als Fabriksarbeiter bezeichnet wird, ist dieses Mal einer unter Millionen, der versucht, mit den Problemen der dreißiger Jahre fertig zu werden, die sich wiederum gar nicht so sehr von denen des 21. Jahrhunderts unterscheiden: Armut, Arbeitslosigkeit, Streiks und Streikbrecher, politische Intoleranz, wirtschaftliche Ungleichheit, Tyrannei der Maschine, Drogen. Nach dem verheißungsvollen Anfangstitel (Eine Geschichte über Industrie und individuellen Unternehmergeist, den Kreuzzug der Menschen auf der Suche nach Glück), stellt Chaplin symbolisch Schafe Arbeitern gegenüber, die gerade eine U-Bahnstation verlassen. Als der Tramp in Erscheinung tritt, ist er ein Arbeiter, den die monotone und unmenschliche Fließbandarbeit in den Wahnsinn treibt und der als Versuchskaninchen für eine Maschine herhalten muß, die die Arbeiter, während sie arbeiten, füttern soll. Ausnahmsweise ist der Tramp in diesem Kampf mit der modernen Welt nicht allein.

Nach der Rückkehr von seiner Weltreise 1931 und 1932, lernt Chaplin die Schauspielerin Paulette Goddard kennen, die ihn mehrere Jahre hindurch als ideale Partnerin in seinem Privatleben begleiten wird. Sie inspiriert ihn zur Figur des Mädchens in Modern Times: ein Mädchen, dessen Vater bei einer Gewerkschaftsdemonstration getötet wird und das sich mit dem Tramp verbündet. Sie sind weder Rebellen noch Opfer, sondern, so schreibt Chaplin, „ die beiden einzigen lebendigen Geister in einer Welt von Automaten. Wir sind Kinder ohne Sinn für Verantwortung, während die anderen unter der Last ihrer Pflichten untergehen. Wir sind frei in unseren Köpfen“.

In gewissem Sinn sind sie also Anarchisten. Chaplin hatte zunächst ein trauriges, sentimentales Filmende geplant. Während der Tramp nach einem Nerven-zusammenbruch im Spital liegt, tritt das Mädchen in einen Orden ein und trennt sich für immer von ihm. Er drehte dieses Ende sogar, nahm aber zugunsten eines positiveren Ausgangs wieder Abstand davon. Auf dem Titel heißt es: „Wir werden schon irgendwie durchkommen“ und das Paar entfernt sich Arm in Arm über eine Landstraße in Richtung Horizont. Zum Zeitpunkt, als Modern Times ins Kino kam, hatte sich der Tonfilm schon seit beinahe zehn Jahren durchgesetzt. Bis dahin hatte Chaplin Dialoge im Film abgelehnt, wohl wissend, daß der weltweite Erfolg seiner Komik seiner stummen Pantomime zu verdanken war. Dieses Mal gab er so weit nach, einen Dialog vorzubereiten und sogar Testaufnahmen mit seiner Stimme zu machen. Letztendlich ließ er davon wieder ab und wie in City Lights benutzt er auch in Modern Times nur Musik und Toneffekte. Menschliche Stimmen bekommt man nur über technische Geräte zu hören: Den Chef, der sich über einen Bildschirm an seine Arbeiter richtet, den Verkäufer, der nur eine Stimme aus dem Phonographen ist. Für einen kurzen Moment bekommt man dennoch Chaplins Stimme direkt zu hören. Als singender Kellner in einem Restaurant engagiert, läßt er sich die Texte auf seine Manschetten schreiben, doch bei der ersten dramatischen Geste fliegen sie ihm davon und er ist gezwungen, das Lied in einem wunderbaren pseudoitalienischen Kauderwelsch zu improvisieren.

Man kannte Chaplins Stimme schon vom Radio und zumindest einer Nachrichtenschau, aber dies war das erste und einzige Mal, daß man die Stimme des Tramp zu Ohren bekam. Abgesehen von seinem Zögern bei der Verwendung des Tons und beim Schluß des Films, scheinen die Dreharbeiten sehr harmonisch und für einen Chaplinfilm relativ rasch verlaufen zu sein. Der Umstand, daß sich die Erzählstruktur klar in vier Akte aufteilen läßt, mag geholfen haben, da jeder Akt mehr oder weniger einen eigenständigen Kurzfilm darstellte. Wie der amerikanische Kritiker Otis Ferguson damals schrieb, man hätte sie getrennt betiteln können: Am Fließband, Im Gefängnis, Der Nachtwächter und Der singende Kellner. Wie in City Lights komponierte Chaplin die Musik selbst und gab damit einmal mehr seinen Arrangeuren und Dirigenten eine harte Nuß zu knacken ... in dem Ausmaß, daß der berühmte Hollywoodkomponist Alfred Newman das Handtuch warf.

Modern Times wurde Opfer einer seltsamen Plagiatsdiskussion. Die deutsch-französische Firma Tobis behauptete, daß Chaplin Szenen und Ideen aus einem anderen großartigen Film über die moderne Industriewelt – René Clairs A nous la liberté – gestohlen hatte. Die Argumente waren nicht sehr stichhaltig und René Clair, einem großen Bewunderer Chaplins, war die Affäre höchstpeinlich. Aber Tobis gab nicht auf und ging sogar so weit, 1947 nach dem Krieg seine Forderungen zu erneuern. Dieses Mal stimmte das Studio Chaplin der Zahlung einer bescheidenen Summe zu, einfach, um dieses Ärgernis loszuwerden. Chaplin und seine Anwälte blieben davon überzeugt, daß die Entschlossenheit der mehrheitlich deutschen Firma ein Vergeltungsakt für die anti-nazistische Botschaft in The Great Dictator war. Zum Glück für die Nachwelt gelang es Tobis nicht, wie ursprünglich gefordert, die Vernichtung von Chaplins Films durchsetzen. Im Gegenteil, Modern Times bleibt bis heute ein Kommentar über das Überleben des Menschen im industriellen, sozialen und wirtschaftlichen Kontext des 20. Jahrhunderts. Seine menschliche Botschaft behält auch für das 21. Jahrhundert seine Gültigkeit.

35mm / Schwarzweiß / 1:1,33 Länge: 87 Minuten
Ab 19. Dezember 2003
Gartenbaukino, Wien
Amerikanische Originalfassung mit deutschen Untertiteln
 
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