Aus der Bundespolitik

   
Rede von Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel zum österreichischen Nationalfeiertag am 26. Oktober 2002

Sehr geehrte Damen und Herren!

Europa wächst zusammen - gerade in diesen Tagen!

Nicht von selbst, nicht als Geschenk. Sondern als hart erarbeitetes Ergebnis jahre-, ja jahrzehnte- langer Bemühungen. Als eine Summe von unzähligen wohlüberlegten Schritten, zäher Verhandlungen begonnen unter österreichischem Vorsitz und sorgfältig abgewogener Interessensausgleiche. Mit den praktischen Fortschritten bei der Wiedervereinigung unseres Kontinents wächst auch das Vertrauen der europäischen Bürger in das Gelingen dieses Unterfangens. In dürren Zahlen allein kann man dieses noch nicht vollendete Werk sicher nicht messen. Der einzige Maßstab wird letztlich das Gefühl aller Europäer sein, gemeinsam auf einem friedlichen, wohlhabenden und zukunftsreichen Kontinent leben zu dürfen.

Erlauben Sie mir daher an diesem Festtag einen kurzen Rückblick auf den gestrigen Arbeitstag: In Brüssel haben wir als Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union mit der Finanzregelung für die Erweiterung, die Wiedervereinigung Europas die in Kopenhagen vollzogen wird, vorbereitet. Gleichzeitig haben wir für unsere Bauern, der gesamten ökologisch ausgerichteten Landwirtschaft Österreichs eine verlässliche und langfristige Perspektive bis zum Jahr 2013 geboten. Nur mit einer umsichtigen, behutsamen, aber entschlossenen Vorbereitung konnte und kann dieses Gesamtwerk gelingen. Dieses Bewusstsein hat unsere Arbeit auch gestern geleitet. Auf diese Arbeit können sich auch die Österreicher und Österreicherinnen verlassen. Ihre Anliegen, Sorgen und Hoffnungen fließen auf allen Ebenen in dieses große Einigungswerk ein.


Meine Damen und Herren,

Immer weniger Menschen sind Zeitzeugen, unmittelbare Zeitzeugen, der Ära unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg - obwohl die Generation um 1945 zum Teil noch lebt. Mehr und mehr sind wir auf Erzählungen unserer Eltern und Großeltern, auf literarische Zeugnisse und auf Wissen aus dem Schulunterricht und aus den Medien angewiesen. Es ist unsere Verpflichtung, der Jugend jenes Wissen zu vermitteln, das nötig ist, um die damaligen Ereignisse zu verstehen, heute und morgen, um in Zukunft richtig handeln zu können.

Die Ereignisse von damals spielen auch in der heutigen Gegenwart noch immer herein. Österreich hat - gerade in den letzten Jahren - die Lücken in der Restitution geschlossen, ehemalige Zwangsarbeiter entschädigt, Versorgungsleistungen für ehemalige Kriegsgefangene verbessert und neu geschaffen. Aber auch die Diskussion um die Vertreibungen nach dem Krieg zeigen uns, dass die Ereignisse, die zum Teil sechzig und mehr Jahre liegen, noch immer schmerzlich nachwirken.

Wir können und wir sollen stolz darauf sein, was die Generation unserer Mütter und Väter aus Trümmern aufgebaut hat ! Und wir sollen dafür auch ein herzliches Dankeschön sagen! Diese Aufbaugeneration hat eine hervorragende Grundlage für das moderne Österreich geschaffen. Auf dieser Grundlage und in diesem Geist der Aufbaugeneration konnte vieles von dem entstehen, was Österreich heute zu einem der besten Plätze zum Leben und Arbeiten macht.

Unser Dank soll auch nicht nur immateriell, denn wir haben heute in der Früh gemeinsam mit den Seniorenverbänden politische Verhandlungen geführt, gemeinsam mit dem Generationenminister, der Vizekanzlerin dem Finanz- und Wirtschaftsministern.

Wir haben für die Pensionsanpassungen des nächsten Jahres den gesetzlich möglichen Rahmen voll ausgeschöpft. In den abschließenden Verhandlungen haben wir den vollen Werterhalt durch eine Erhöhung von 2 % sichergestellt. Das bedeutet, dass Österreichs Pensionisten nächstes Jahr um 565 Millionen EURO (7,8 Milliarden Schilling) mehr bekommen werden.


Meine Damen und Herren,

Vor wenigen Tagen haben wir mit einem Festakt im österreichischen Parlament den 100. Geburtstag des großen Österreichers Leopold Figl gefeiert. Figl hat als Bundeskanzler von diesem Haus aus unser Land durch die schwersten Monate und Jahre nach dem Krieg geführt. Als Außenminister hat er mit dem Staatsvertrag Österreichs Freiheit und Unabhängigkeit gewonnen und unserem Land einen gleichberechtigten Platz in der Staatengemeinschaft erarbeitet.

Gelegentlich frage ich mich und Sie sich wohl auch, was Männer wie Figl heute empfinden mögen und sagen würden, könnten sie erleben, was aus ihrem Aufbauwerk mit den Politikern aus allen politischen Lagern geworden ist. Ich bin überzeugt davon, sie wären beeindruckt davon, wie sich ihre Söhne und Töchter, ihre Enkel und Enkelinnen dieses ihr Österreich entwickelt, verändert, verbessert haben.

Um das Ausmaß dieser positiven Entwicklung überblicken zu können, ist es vielleicht hilfreich, den Blick über die Grenzen zu heben und bedeutende Faktoren wirtschafts- und gesellschaftlichen Lebens europa- oder weltweit zu erfassen.

Natürlich lässt sich vieles, was die Lebensqualität und die Stimmung in einem Land ausmacht, nicht mit statistischen Methoden erfassen. Aber der Wärmegrad einer Gesellschaft, für den wir alle verantwortlich sind, lässt sich ganz sicher nicht messen, er lässt sich spüren, nicht errechnen. Dennoch ist es für mich als Bundeskanzler besonders erfreulich, dass Österreich in vielen Bereichen im internationalen Vergleich heute sehr gut dasteht und sich in den letzten Jahren noch weiter verbessert hat.


Meine Damen und Herren!

Lassen Sie mich mit dem Thema "Sicherheit" beginnen! Wir stehen alle noch unter dem Schock der Geiselnahme in Moskau, die in dieser Nacht ein Ende genommen hat. Zur Stunde wissen wir noch nicht genau, wie viele Opfer zu beklagen sind. Ich möchte jedoch allen, die tagelang um ihre Angehörigen und Freunde zittern mussten oder nun ihren Verlust betrauern, mein tiefstes Mitgefühl aussprechen. Auch in dieser Stunde dem gesamten russischen Volk und seiner Führung, Präsident Putin, Österreich steht an Ihrer Seite und fühlt mit Ihnen. Vor einer Stunde habe ich vom Botschafter Cede, dem österreichischen Vertreter in Moskau, mit großer Erleichterung erfahren, dass die österreichische Geisel frei, gesund und wohlauf ist. Herzlichen Dank all jenen, die sich unermüdlich dafür eingesetzt haben.

Wir haben in den Medien erlebt, wie ein hinterhältiger Attentäter in Washington, USA, unschuldige Menschen töten und Unzählige in Angst und Schrecken versetzen konnte. Auch die schrecklichen Ereignisse in Helsinki, in Bali, auf den Philippinen haben wir mit Entsetzen verfolgt.



Liebe Österreicher und Österreicherinnen!

Sicherheit ist ein höchst sensibles Gut. Kein Politiker kann hundertprozentige Sicherheit garantieren. Aber wir können die Rahmenbedingungen für ein sicheres Österreich schaffen. Und wir müssen Bedrohungen ernst nehmen, und wir müssen hartnäckig und nachdrücklich daran arbeiten, das wir Instrumente und Mittel haben, um solche Bedrohungen verhindern zu können. Ich sage es auch offen, manchmal sind Investitionen in unsere Sicherheit notwendig, um solche Bedrohungen nicht erst Realität werden zu lassen. Das ist dann kein verlorener Aufwand, sondern eine höchst notwendige Sicherheitsinvestition.

Die Österreicherinnen und Österreicher fühlen sich subjektiv sehr sicher. Mehr als 86% aller Befragten glauben: Sie sind sehr oder ziemlich sicher. Jüngste Untersuchungen haben das auch weltweit untermauert. Österreich, und das sage ich mit großer Freude, ist im heurigen Jahr erstmals gemessen im Competitiveness Yearbook - vor Finnland und Singapur - der "Sicherheits-Weltmeister", Nummer 1 in der Welt. Und diesen Status auch weiterhin zu erhalten, ist nur mit ernsthafter, konsequenter und zukunftsgerichteter Arbeit möglich.

Zum Thema Lebensqualität - bleibt Österreich, und das ist wichtig festzuhalten, das Land mit der weltweit besten Lebensqualität. Das ist ein schwer fassbarer Begriff und hat nicht zuletzt für jeden Einzelnen eine eigene vielleicht auch eine andere Bedeutung. Wir müssen auch die individuelle Lage unserer Mitbürger berücksichtigen und dürfen nie vergessen, dürfen niemanden lassen, dem es in Österreich - verschuldet oder unverschuldet - schlecht geht.

Auch im Thema Gesundheitswesen ist Österreich an der Spitze der Welt! Sowohl was die Betreuungsdichte durch Ärzte und medizinisches Fachpersonal betrifft, aber auch, was die Gesundheits-Infrastruktur anlangt, liegt Österreich an der Spitze aller vom Forschungsinstitut in der Schweiz IMD untersuchten Länder.

Österreich ist tatsächlich heute ein Treffpunkt ambitionierte Forscher im Gesundheitsbereich aus aller Herren Länder. Die Leistungen, die an heimischen Kliniken erbracht werden, sind von höchstem Standard und die Patienten können sich sicher fühlen, dass ihnen wirklich das Beste, was der neueste Stand der medizinischen Forschung ermöglicht, zur Verfügung steht!

Auch im Thema Umwelt bleiben wir in der Umweltqualität in der Europäischen Union die Nummer 1. Eine strenge Umweltgesetzgebung des Bundes und der Länder, aber auch die Bereitschaft der Wirtschaft, dem Umweltschutz einen zentralen Stellenwert einzuräumen, und die unschätzbaren Verdienste einer nachhaltig wirtschaftenden Familien-Landwirtschaft haben uns diese Spitzen-Platzierung ermöglicht.

Auch in der sozialen Ausgewogenheit, im Unterschied "reich und arm" ist der Unterschied am geringsten und damit das Maß an sozialer Ausgewogenheit am höchsten. Der sozialer Friede ist der Lohn dafür, denn Gerechtigkeit ist ein schwer quantifizierbarer Begriff. Österreich besteht diesen sozialen "Gerechtigkeitstest" bestens.

Österreich hat überdies eines der besten Bildungssysteme der Welt. Jeder siebente Euro wird dafür ausgegeben und damit direkt in die Zukunft unseres Landes investiert. Wir haben das höchste und beste Betreuungsverhältnis der Haupt- und Volksschüler. Die heuer publizierte PISA-Studie hat gezeigt, dass dies auch wahrhaft eine gute Investition ist. Und es trägt wesentlich dazu bei, dass Österreich die zweitniedrigste Jugendarbeitslosigkeit innerhalb der Europäischen Union hat. Natürlich ist uns jeder jugendliche Arbeitslose zuviel, aber dank unseres Schul- und Berufsausbildungssystems sind die Startchancen in die Arbeitswelt in Österreich um einiges besser als in den meisten anderen Vergleichsländern.

Es gäbe noch zahlreiche andere Indikatoren, bei denen Österreich ganz vorne oder sogar an der Spitze rangiert - etwa Investitionen in Kunst und Kultur, in Österreich mit über 18,5 Mrd. Euro doppelt so hoch wie in Deutschland, die hohe Verfügbarkeit von qualifizierten Facharbeitern, Dritter hinter den Philippinen und Island, die niedrigste Streik-Rate, die niedrigste Rate beim Mobbing am Arbeitsplatz, die zweithöchste Mitarbeitermotivation bis zu den deutlich verbesserten Rängen im Management der öffentlichen Finanzen und der bürokratischen Hemmnisse.

Besonders wichtig und signifikant für den Wärmegrad einer Gesellschaft ist, dass wir Spendenweltmeister sind. In keinem anderen Land der Welt werden ähnlich beeindruckende Daten zur Spendenfreudigkeit erhoben. 71% aller Österreicher spenden regelmäßig Geld, nur weniger als ein Zehntel spendet niemals. Im Jahr 2000 wurden fast 500 Mio. Euro für wohltätige Zwecke gespendet. Und Aktionen, wie "Licht ins Dunkel" oder "Nachbar in Not", sind mittlerweile unverwechselbare österreichische trade marks geworden.

Österreich ist wirklich ein Land, in dem die Bürgergesellschaft, freiwilliges und unentgeltliches Engagement, am intensivsten gelebt wird.

Der Nationalfeiertag ist uns Anlass jenen Menschen, die durch ihr ehrenamtliches Engagement Österreich lebenswert machen, zu danken.

Besonders hat dies funktioniert bei der Hochwasserkatastrophen im heurigen Sommer. Hier hat das Funktionieren der Bürgergesellschaft und die Spendenfreudigkeit der Österreicher eindrucksvoll ihr Leben bewiesen. Unmittelbare Hilfe vor Ort - als Helfer in Einsatzorganisationen oder einfach im Rahmen der Nachbarschaftshilfe - und großzügige Spenden haben dazu beigetragen, dass die Folgen der verheerenden Überschwemmungen zu einem Gutteil schon beseitigt werden konnten und unser Land wieder zu blühen beginnt!

Dafür nochmals meinen ganz besonderen Dank!

Die wichtigen politischen und gesellschaftlichen Kräfte in Österreich, meine Damen und Herren, waren und sind in der Vergangenheit und Gegenwart immer bereit, ideologische und Interessensgegensätze zu überwinden und für unserer Heimat zu agieren. Dieser "Österreichische Geist" hat unserem Land Wohlstand und Sicherheit gebracht, ihm wirkliche Stärke verliehen. Dies zu bewahren ist Auftrag und Verpflichtung!

Ohne eine solche Grundhaltung könnte Politik nicht erfolgreich gestaltet werden. Diese Grundhaltung prägt die Politik dieser Bundesregierung.

Die Stärken unseres Landes weiter auszubauen und weitere Stärken zu entwickeln, muss daher die zentrale Aufgabe einer modernen, zukunftsorientierten Politik auf dem weiteren Weg ins 21. Jahrhundert sein!

Danke meine Damen und Herren für Ihre Aufmerksamkeit.

Quelle: Bundespressedienst