Festrede von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel   

erstellt am
28. 04. 05

anlässlich des Festaktes zur Wiedererrichtung der Republik am 27. April 1945

Herr Bundespräsident, hochwürdiger Herr Kardinal, Herr Nationalratspräsident!

Nach dieser beeindruckenden Vorführung des Films von Hugo Portisch komme ich zur Einleitung unserer Festversammlung und darf festhalten, dass dieser 27. April 1945 als allererstes ein Tag der Freude war. Er ist die Geburtsstunde der Zweiten Republik, er ist auch die Geburtstunde für 300 Österreicherinnen und Österreicher, einige davon sind heute mit dabei und ich darf Sie ganz besonders herzlich in unserer Mitte begrüßen.

Schon am Abend dieses 27. Aprils haben die Wiener Philharmoniker im Wiener Konzerthaus ein Festkonzert unter Werner Kraus gegeben, wenige Tage später wurden auch schon in der Volksoper, im Raimundtheater, im Theater in der Josefstadt wieder Stücke aufgeführt - Zeichen für ein neu erwachendes Kulturleben. Der 27. April war jedenfalls in Wien - und nicht in Innsbruck, wie wir gesehen haben -, ein Frühlingstag vor 60 Jahren, in zehn Tagen wird der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende sein, vor zehn Tagen sind in Wien die großen österreichischen Parteien gegründet worden. Ihre Gründer sind aus Konzentrationslagern und Haft zurückgekehrt, und haben gemeinsam mit anderen Demokraten die Zweite Republik geschaffen. Das Drama dieses sechsjährigen Krieges und das Trauma des nationalsozialistischen Terrorregimes werfen aber düstere Schatten auf die Wiege dieser rotweißroten Wiedergeburt, aber das Kind lebt. Inmitten von Ruinen, Not, Hunger und Verzweiflung lebt dieses kleine, neue Österreich, weil an diesem Tag alle nach vorne schauen. Der Alptraum ist zu Ende. Aber nicht für jeden war der Schrecken zu Ende, und nicht jeder Schrecken war zu Ende. Es ist weiter gegangen mit Vertreibungen, in ganz Europa, vor allem in Mitteleuropa sind über zehn Millionen Menschen vertrieben worden, haben ihre Heimat verloren, ganze Flüchtlingstrecks waren auf Wanderschaft auf der Suche nach einer neuen Heimat. Kriegsgefangenschaft für Millionen, Vergewaltigungen, Plünderungen, all dies hat es gegeben. Und der Preis der Freiheit war ein hoher. Hunderttausende Österreicherinnen und Österreicher sind verwundet und tot gewesen, Hunderttausende haben ihren Irrtum, ihren schrecklichen Irrtum erkennen müssen, doch befreit waren letztlich beide: die Opfer wie die Täter.

Im Jahr 1945 ist für Österreich ein halbes Jahrhundert vergeblicher Anstrengungen, falscher Zielsetzungen, fehl geleiteter Strategien, schmählich enttäuschter Hoffnungen zu Ende gegangen und die Proklamation der Provisorischen Staatsregierung unter Karl Renner wurde damit zur Geburtsstunde eines neuen demokratischen Österreich, das in 60 Jahren eine beispiellose Erfolgsgeschichte geschrieben hat.

Meine Damen und Herren, neben dem Tag der Freude ist der 27. April aber auch immer ein Tag der Besinnung. Wie konnte es eigentlich zu diesem Schrecken kommen? Was sind die Lehren daraus? Wie kann man dieses „Nie wieder“, das sich die Gründer der Republik vorgenommen haben, wirklich zu einem ungeschriebenen Grundgesetz dieser Republik und dieses neuen Europa machen?

Die Opfer dieses Schreckens müssen genannt werden: 100.000 Österreicher sind in den Konzentrationslagern oder in Gefangenschaft gestorben, die meisten davon Juden. Viele mussten wegen ihrer politischen und religiösen Überzeugungen ihr Leben lassen, auch tausende Roma, Sinti, Kranke und behinderte Menschen wurden ermordet. 50.000 Zivilisten sind getötet worden, 100.000 politische Gefangene haben Jahre ihres Lebens verloren. 250.000 Soldaten wurden getötet, 250.000 kamen schwer verletzt und verstümmelt aus dem Krieg zurück, und 500.000 Kriegsgefangene haben in den darauf folgenden Jahren dafür büßen müssen, dass dieser verbrecherische Krieg gestartet wurde.

Nach Fritz Molden sind fast sieben Prozent der österreichischen Bevölkerung diesem dunklen Zeitalter zum Opfer gefallen. Und es mutet ja fast als gespenstische Parallele an, dass die Zahl der Opfer - rund 400.000 Österreicherinnen und Österreicher - die Zahl der Täter – fast eine halbe Million Nazis und Mitläufer des Hitler-Regimes – widerspiegelt. Und daher ist für mich und hoffentlich für uns alle klar, dass, wer die Gräuel des Regimes verharmlost und die Existenz von Lagern, von Gaskammern relativiert, nicht in unsere Institutionslandschaft passt.

Wann, wenn nicht jetzt, muss man zur Besinnung kommen, gerade in einem Land, das sich ja länger als jedes andere gegen Hitler und gegen den Nationalsozialismus gestemmt hat, in dem aber auch viele, allzu viele, schuldig geworden sind? Und wir sind es an diesem Tag der Besinnung auch schuldig, die Gründermotive dieses neuen Österreich zu respektieren und in Erinnerung zu rufen. Es waren neue Parteien, neue Programme, die die Fehler der Vergangenheit vermieden haben. Es sind neue Namen für die Bewegungen gesucht worden, und es waren neue Personen. In der Regierungserklärung von Leopold Figl am 21. Dezember 1945 – er war der erste demokratisch gewählte Regierungschef Österreichs – hat er die Zielsetzung für diese neue Republik besonders deutlich akzentuiert: „Es soll ein freies und ein soziales, ein neues und revolutionäres, ein von Grund auf umgestaltetes Österreich sein“, auf keinen Fall „eine Wiederholung von 1933 noch von 1938.“
   

Nicht vergessen sollten wir an diesem Tag der Besinnung, dass die wahre Antithese zu Nationalismus und zu den Schrecken, die überwunden waren, Europas Einigung gewesen ist. Die Schöpfung der Europäischen Gemeinschaft ist ja nichts anderes als eine solch lebendig gewordene Antithese und der tiefere Grund dafür, dass wir hier jetzt das Glück haben, durch sechzig Jahre hindurch in Friede, Freiheit und Wohlstand leben zu können. Und daher ist dieses neue Europa eigentlich die Frucht des Tags der Freude am 27. April 1945 und zugleich auch eine Verpflichtung für uns Österreicherinnen und Österreicher. Denn nur in dieser Vereinigung, in dieser neuen Gemeinschaft sind die Überwindungen von Spannungen zwischen Deutschen und Franzosen oder Polen und Deutschen oder auch die Spannungen zwischen Österreich und manchen seiner Nachbarländer überwindbar. Und deswegen haben wir uns auch immer vorgenommen, diese Einbindung der Nachbarländer, die Wiedervereinigung Europas, zu einem der bewegenden und prägenden Kernpunkte für die Zukunft und für das Prinzip unserer Außenpolitik zu machen. Und das muss weitergehen. Wir haben am Montag den Beitrittsvertrag von Rumänien und Bulgarien unterschrieben, wir versuchen, die Verhandlungen mit den Balkanstaaten zu beschleunigen, und ich bin sicher, am Ende wird ein solches wieder vereinigtes Europa als gelebte Lehre aus dieser Geschichte möglich sein.

Und vielleicht eröffnet sich gerade jetzt in diesem „Gedankenjahr“, in diesem Jubiläumsjahr 2005, an der Schwelle zu einem neuen Europa, erstmals auch uns die Chance, Österreich und seine Geschichte, das letzte Jahrhundert seiner Geschichte in seinem gesamten Zusammenhang zu lesen, zu verstehen, zu diskutieren, und dabei wohl auch eine neue Heimat zu entdecken.

Neben dem Tag der Freude, dem Tag der Besinnung, ist dieser Tag meiner Meinung nach ein Tag des Dankes in einem Gedankenjahr. Ein Dank an die Mutmacher von Beginn an. Figl hat ja das Lebensmotto dieser Republik in seiner Weihnachtsansprache mitgegeben, indem er ausgerufen hat, „Glaubt an dieses Österreich!“ Und es gibt heute keinen mehr, gleichgültig, welchen Rang er hat, in welcher politischen Bewegung er steht, welchen Beruf er hat, der nicht an dieses Österreich glauben will und auch glauben kann. Das ist der große Unterschied zu unserer Vorgängerrepublik. Vielleicht könnten wir uns ja an den Mutmachern des Jahres 1945 ein Beispiel nehmen. Vielleicht brauchen wir manchmal Schluckimpfungen gegen den Pessimismus und den Kleinmut oder eine kleine Vitaminkur für Hoffnung und Fröhlichkeit. Optimismus könnte in diesen Tagen durchaus nicht schaden. Wir können auch von der Solidarität lernen, die damals selbstverständlich war. Flüchtlinge sind aufgenommen worden, viele, denen es besser gegangen ist, haben uns geholfen, haben unsere Kinder ernährt, haben sie auf Urlaub mitgenommen. Die Amerikaner haben den großartigen Marshall-Plan entwickelt. Und aus dieser Solidarität und dem Zusammengehörigkeitsgefühl kann man durchaus für heute geradezu programmatische Leitsätze ableiten. Wir haben das auch so gehalten. 1956 in der Ungarnkrise, 1968 im Prager Frühling, in der Not der Balkankriege oder bei der Flutkatastrophe am Beginn dieses Jahres.

Dank sagen sollten wir besonders dieser Gründergeneration, die ja mit keinen Maschinen, mit wenig Möglichkeiten diese Republik wiederum aufgebaut hat, und als erstes die Symbole des Landes wiederhergestellt hat, denn Symbole sind wichtig und bleiben wichtig. Und wir sollten den Zeitzeugen danken, die sich in sechs Jahrzehnten nicht zurückgezogen haben, die nicht geschwiegen haben, sondern immer noch reden, Rede und Antwort stehen. Natürlich reden auch Steine und Mauern, aber das Wichtigste ist das Gespräch mit den Menschen. Ein Dank an den ORF, ein Dank an Professor Hugo Portisch und sein Team, die die Kontinuität dieser Erinnerungen in immer neuen sprachmächtigen Bildern weitergeben.

Es gibt in der griechischen Sagenwelt den Fluss Lete, in dem alle Verstorbenen eintauchen, und wenn sie daraus trinken, dann vergessen sie ihre Sorgen, ihre Erinnerungen. Ich glaube, dass dieses Bild des Vergessens, dieses Vergessenwollens, kein Bild sein kann, das Gegenwart und Zukunft prägt. Denn letztlich wissen wir auch, welches Leben diese Schatten führen müssen, stumm und kraftlos. Da gefällt mir als Motto schon besser, was der kraftvolle Bildhauer Fritz Wotruba im Jahr 1945 selber geschrieben hat. Er sagt: „Wir stehen auf einem Trümmerhaufen, wir fangen an, wie das Menschengeschlecht nur je angefangen hat. Aber wir haben eine Kostbarkeit, die unsere Urväter und Urmütter nicht besessen haben, die Erfahrung.“ Ihr sind wir verpflichtet, wir dürfen uns um nichts herumdrücken. Bleiben wir achtsam von Beginn an. Das wollen wir."

Quelle: Bundespressedienst
     
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